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Leben mit Locked-in-Syndrom

„Und Exitus“, hört Karl-Heinz Pantke den Sanitäter sagen, der im Rettungswagen über ihn gebeugt steht. Dass der junge Mann von ihm spricht und ihn mit diesen Worten für tot erklärt, ist ihm zunächst nicht klar. Plötzlich aber versteht er und verfällt in Panik. „In dem Moment packte mich die Angst, lebendig begraben zu werden. Heute weiß ich, dass die unbegründet war, weil es so einfach nun auch wieder nicht geht. Aber damals befand ich mich in einer absoluten Ausnahmesituation“, resümiert Pantke im Rückblick.

Von Anne Brockmann

Der damals 39-Jährige fiel in Folge eines heftigen Schlaganfalls in das sogenannte Locked-in-Syndrom (LiS). Auf Deutsch heißt das so viel wie das Syndrom des Eingeschlossen-Seins oder des Gefangen-Seins. Der Ort des Grauens ist dabei der eigene Leib. Denn Betroffene des Locked-in-Syndroms sind bei vollem Bewusstsein in ihrem Körper eingesperrt. Da bis auf ein paar wenige Muskeln, die die Augenbewegungen verantworten, alles gelähmt ist, können sie sich weder bewegen noch sprechen oder schlucken. Nur das Atmen geht meist von selbst. Das LiS tritt als sehr seltene Folge einer schweren Schädigung des Hirnstamms auf.

Ursächlich für diese Schädigung können eine Schädel-Hirn-Verletzung, ein Tumor, andere neurologische Erkrankungen oder – wie im Fall von Pantke – ein Schlaganfall sein. Die einzige verbleibende Möglichkeit der Kommunikation bieten meist die Augen. Durch Blinzeln können zum Beispiel Ja/Nein-Fragen beantwortet werden. Das bekannteste Beispiel für die Kommunikation allein mit den Augen lieferte vermutlich der Franzose Jean-Dominique Bauby. Auch den einstigen Chefredakteur des Magazins „Elle“ hat 1995 ein Schlaganfall ins LiS gestürzt. 15 Monate später erschien sein Buch „Schmetterling und Taucherglocke“, das er nur mit dem linken Augenlid diktiert hatte.

Völlige Hilflosigkeit in ständiger Panik

Karl-Heinz Pantke im Brustportrait, blick nach links

Fast vollständig gelähmt, aber bei vollem Bewusstsein musste Karl-Heinz Pantke miterleben, dass er für tot gehalten wurde. Doch die moderne Medizin erkannte seinen Zustand und verordnete Behandlung statt Bestattung

Pantke ist 1995 39 Jahre alt und brütet gerade über seiner Steuererklärung, als ihn eine ungekannte Übelkeit überkommt. „In der Hoffnung, dass es bald vorübergehen würde, habe ich mich aufs Bett gelegt. Dort erlebte ich dann eine Explosion im Kopf, die nur ich hören konnte. Von diesem Moment an war ich gelähmt – und zwar ganz und gar“, berichtet Pantke. Ihm war nicht einmal die Möglichkeit des Blinzelns geblieben. Er war von jeglicher Kommunikation abgeschnitten. „Zu dieser absoluten Stille verdammt gewesen zu sein, war das Schlimmste an meinem Zustand. Wir Menschen sind soziale Wesen, die vom Austausch mit unseren Mitmenschen leben. Es war ein Horror, nicht einmal die Augen bewegen zu können“, schildert Pantke seine Situation.

Wie viele LiS-Patienten hat auch er in dieser Zeit unter Realitätsverlust und Halluzinationen gelitten. „Durch die völlige Isolation geht einem das Gefühl für Zeit und Raum verloren, für das Hier und Jetzt. Das bringt einen Menschen schnell an die Grenzen des klaren Bewusstseins“, führt er aus. Heute kann er all das wieder mit eigener Stimme erzählen. Langsam zwar und etwas verwaschen, aber es geht. Sind sie zu Ende gesprochen, florieren Pantkes Sätze durch die Telefonleitung wie gedruckt. Da schimmert das einstige Dasein als Naturwissenschaftler durch, der Phänomene wortgewandt und präzise auf Tagungen in aller Welt darzustellen wusste.

Überlebt in Berlin – woanders vielleicht verdurstet

Der heute 66-Jährige ist Doktor der Physik. In den Jahren vor seinem Schlaganfall war er in der Forschung tätig. Als Ultrakurzzeitspezialist hat er einst Pikosekunden untersucht. Das ist die Billionstel einer Sekunde oder die zwölfte Stelle hinterm Komma. Das LiS dagegen hat ihn gezwungen, die Langsamkeit zu entdecken. Pantke hat nach seinem Schlaganfall Monate im Krankenhaus verbracht und der Kampf gegen die Folgen ist einer, der ihn sein restliches Leben lang beschäftigen wird.

Vier Tage nach der Explosion in seinem Kopf konnte er die Augenlider wieder bewegen, Wochen darauf folgten Fingerspitzen und Zehen. Das erste Mal auf den eigenen Füßen gestanden hat er nach einem halben Jahr wieder. Ein Wunder, wenn man bedenkt, dass Pantke unmittelbar nach dem Schlaganfall zu keinerlei Lebenszeichen fähig war. „Meine Atmung und mein Puls müssen extrem flach gewesen sein. Deshalb wurde ich auch für tot erklärt. In so einer Situation ist die Unterscheidung zwischen einem Locked-in-Syndrom und einem Hirntod anhand von äußeren Merkmalen selbst für Experten unmöglich. Eine Diagnose kann nur mit allermodernster Technik erfolgen“, weiß Pantke zu erzählen. Längst nicht alle Krankenhäuser würden darüber verfügen, weswegen er froh ist, in einer Großstadt wie Berlin zu leben.

Beziehungen ändern sich – oder enden

Aber auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus und den ersten hart erkämpften Therapie-Erfolgen ist in Pantkes Leben kaum etwas, wie es vorher war. Er war ein leidenschaftlicher Rennradfahrer, hat Touren durch Dänemark, Südfrankreich und die Toskana unternommen. Von diesem Hobby bleibt nichts als die Erinnerung. Auch die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin hat sich verändert. Pantke glaubt, dass es in solch einer Situation, in der ein Beziehungspartner zu einem „hilflosen Bündel“ wird, wie er es nennt, vor allem zwei Wege gibt: „Entweder führt diese extreme Lage schnell zu einer Trennung oder sie bringt die Betroffenen noch näher zusammen.“

Bei ihm war Letzteres der Fall. Insgesamt 30 Jahre haben er und Lebensgefährtin Christine miteinander verbracht – bis sie vor einigen Jahren an Krebs verstorben ist. „Sie hat den Spagat gemeistert, Partnerin und Pflegeperson in einer zu sein“, sagt Pantke dankbar. Als Vorsitzender des Vereins Locked-in-Syndrom e.V., den Pantke selbst gegründet hat, konnte er beobachten, dass das Scheitern oder Fortbestehen einer Beziehung auch von der Geschlechterkonstellation abhängt. „Wenn Männer vom LiS betroffen sind, halten die Beziehungen meist. Wenn Frauen das Syndrom haben, gehen sie eher auseinander“, berichtet er. Neben seiner Tätigkeit als Vorsitzender des LiS e.V. führt Pantke außerdem die Geschicke der Christine-Kühn-Stiftung, die er gemeinsam mit seiner Partnerin ins Leben rief. Die Stiftung setzt sich für die Interessen von LiS-Patienten ein.

Eine andere Art der Lebensfreude

Seit dem Tod seiner Lebensgefährtin lebt Pantke allein in seiner Berliner Altbauwohnung im Stadtteil Schöneberg. Einmal in der Woche kommt jemand, um die Wohnung zu putzen. Zweimal in der Woche sucht eine Ergotherapeutin ihn zu Hause auf. Wie notwendig es ist, therapeutisch stets am Ball zu bleiben, hat Pantke im vergangenen Jahr erlebt. Ein Therapeutenwechsel, bei dem kein nahtloser Übergang erfolgen konnte, warf ihn deutlich spürbar zurück. Eines aber hat er durch das LiS gelernt: „Ich kann viel bewegen, ich muss es nur wollen.“ Das hat ihm auch aus dieser Krise herausgeholfen. Und noch etwas ist ihm durch das LiS klar geworden: Was ihm im Leben wirklich wichtig ist. „Wie wertvoll das Gespräch mit einem anderen Menschen ist, weiß ich erst jetzt. Begegnungen ergeben sich nicht so oft, wie ich es mir wünsche, aber wenn, dann sind sie mir eine Riesenfreude“, sagt Pantke gerührt.