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Lüge und herrsche?

Zehn Jahre Volksabstimmung über Stuttgart 21

Fakenews-Debatte, Pandemie und Verschwörungsmythen machen deutlich, wie stark gute politische Entscheidungen von sachlicher und wahrheitsgetreuer Information abhängig sind. Dies gilt besonders auch für direktdemokratische Entscheidungen – der Brexit und seine Folgen zeigen es deutlich.

Vor zehn Jahren scheiterte in einer Volksabstimmung der Ausstieg des Landes aus der Finanzierung von Stuttgart 21, die sicher – so auch das Kalkül seiner Gegner – zum Ende des Bauprojekts geführt hätte. Zuvor ging ein sogenanntes Abstimmungsheft nach Schweizer Vorbild an die Haushalte des Landes, in dem Projektgegner und -befürworter ihre Argumente darlegten. Zehn Jahre später nochmals einen Blick hineinzuwerfen und die damaligen Behauptungen den mittlerweile offenbar gewordenen Tatsachen gegenüberzustellen, wirft einige Fragen auf.

Von Nico Nissen

Grafik einer Dampflok unter Dampf

Behauptung der Befürworterseite

„Ganz Baden-Württemberg profitiert von S 21. Die Fahrzeiten werden verkürzt, Verbindungen verbessert und der Schienenverkehr dadurch attraktiver.“

Grafik einer Dampflok, die von einem Berg stürzt

Tatsache nach zehn Jahren

Sowohl für den Regionalverkehr als auch die Vororte von Stuttgart ist der Gegenbeweis erbracht. Denn mittlerweile wurde eingeräumt, dass der im Schlichterspruch von Heiner Geißler geforderte Anschluss der Gäubahn – Stuttgarts Verbindung zum Schwarzwald und in die Schweiz – an den Tiefbahnhof nicht in der ursprünglichen geplanten Weise möglich ist, ohne dass ihr die S-Bahn in die Quere kommt. Im Juni 2020 stellte der damalige Staatssekretär des Verkehrsministeriums und Ludwigsburger Abgeordnete Steffen Bilger (CDU) den Plan für einen weiteren bis zu zwölf Kilometer langen Tunnel vor, der die Gäubahn über ein weiteres Gleis am Flughafen zum Tiefbahnhof führt. Ansonsten hätte sie im Mischverkehr mit der S-Bahn fahren müssen, was Fahrzeiten und Verbindungen deutlich verschlechtert statt verbessert hätte. Ein Gutachter der Stadt Leinfelden-Echterdingen (der Stuttgart-21-Gegnerschaft sicher unverdächtig), kam sogar zum Schluss, Stuttgart 21 könne nur auf Kosten der Filder-S-Bahn realisiert werden.

 

Grafik einer Dampflok unter Dampf

Behauptung der Befürworterseite

„S 21 wurde von Behörden und Gerichten sorgfältig geprüft und hat sich in jahrelangen Verfahren als beste Variante für den Bahnknoten Stuttgart erwiesen.“

Grafik einer Dampflok, die von einem Berg stürzt

Tatsache nach zehn Jahren

Wer damals schon einen Blick in die Planfeststellungsunterlagen geworfen hat, wird festgestellt haben, dass das nicht so einfach ist – es hängt vielmehr davon ab, wie weit man den Begriff „beste Variante“ dehnen möchte.
Über die anderen geprüften Varianten, bei denen der Kopfbahnhof erhalten worden wäre, steht dort beispielsweise:

  • „An erster Stelle sind hier die möglichen Gefahren für das Grundwasser und insbesondere für das Mineral- und Heilwasser Stuttgarts zu nennen. Wird auf den Tiefbahnhof und die Tunnelstrecken verzichtet, entfallen diese im Stadtbereich weitgehend.“
  • „Auch die geringeren Eingriffe in die Umweltschutzgüter Tiere und Pflanzen, Boden sowie Luft und Klima werden nicht verkannt.“
  • „Weniger Eingriffe sind auch im Bereich des Denkmalschutzes zu verzeichnen.“
  • „Ein weiterer Vorteil aller Beibehaltungslösungen ist die geringere Betroffenheit privaten Eigentums.“
  • „Ebenso sind die Auswirkungen des Baubetriebs auf den öffentlichen und privaten Verkehr in Stuttgart bei allen Varianten der Beibehaltung des Kopfbahnhofs geringer als bei der Antrags-Trasse.“
  • „Im Ergebnis der Kostendiskussion bleibt festzustellen, dass die rein verkehrlich-betriebliche Variante LEAN (Anmerkung der Redaktion: Die den Kopfbahnhof erhalten hätte.) auch nach den Berechnungen der Vorhabenträgerin (Anmerkung der Redaktion: Also der Bahn.) deutlich kostengünstiger ist als die Antragslösung.“

Zudem zeigte die angeblich sorgfältige Prüfung auch nach der Volksabstimmung noch erhebliche Lücken. Vollständig planfestgestellt ist Stuttgart 21 bis heute nicht. Von Öffentlichkeit und Behörden diskutiert wurden Leistungsfähigkeit, Sicherheit, Brandschutz, Betriebskosten, Anschluss des Regionalverkehrs oder das Abpumpen riesiger Grundwassermengen. Nach wie vor ungeklärt ist beispielsweise die Frage, ob der Tiefbahnhof mit seiner eigentlich unzulässigen und nur durch Ausnahmegenehmigung genehmigungsfähigen Gleisneigung überhaupt unfallsicher betrieben werden kann.

 

Grafik einer Dampflok unter Dampf

Behauptung der Befürworterseite

„Die neueste Kostenkalkulation bestätigt: S 21 ist im Kostenrahmen und hält weiterhin einen Puffer für mögliche Baupreissteigerungen vor.“

Grafik einer Dampflok, die von einem Berg stürzt

Tatsache nach zehn Jahren

Stand zur Volksabstimmung waren 4,1 Milliarden Euro Kosten und 400 Millionen Euro „Puffer“. Der war schon im März 2012 größtenteils hinfällig, also vier Monate nach der Volksabstimmung. Seither wurden noch zweimal größere Steigerungen der Gesamtkosten eingeräumt, nur ein Jahr nach der Volksabstimmung auf 6,8 Milliarden Euro und 2018 auf 8,2 Milliarden Euro, womit sich die Baukosten seit der Volksabstimmung verdoppelt hätten. Der Bundesrechnungshof, eine neutrale Aufsichtsbehörde, geht aber bereits seit 2016 von mehr als 10 Milliarden Euro Gesamtkosten aus. Auch weniger unabhängige Gutachter und interne Dokumente ließen die von der Bahn offiziell verlautbarten Kosten immer wieder unglaubwürdig erscheinen.
Die unsichere Kostenfrage enthält viel Sprengstoff:

  1. Vonseiten der Projektpartner gibt es nur Finanzierungszusagen bis zu den 4,526 Milliarden Euro, die zur Zeit der Volksabstimmung galten. Die Bahn hat die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg deswegen auf eine Beteiligung an den Mehrkosten verklagt. Die wäre aber gerade wegen der Volksabstimmung und des Ratsbegehrens ethisch fragwürdig. Mit diesem hat der Gemeinderat Stuttgarts nämlich 2009 beschlossen, vor einer Beteiligung der Stadt an möglichen Mehrkosten einen Bürgerentscheid oder wenigstens eine Bürgerbefragung durchzuführen.
  2. Die Bahn selbst ist wegen ihrer hohen Verluste nicht dazu in der Lage, die Mehrkosten allein zu tragen, und der Bund hat keine weiteren Mittel zugesagt, obwohl Schieneninfrastruktur laut Grundgesetz eindeutig seine Angelegenheit ist – und nicht die des Landes oder gar der Kommune.
    Mehrmals erklärten Bahnvorstände, dass Stuttgart 21 nur bei einer bestimmten Kostenobergrenze wirtschaftlich zu betreiben ist – die wurde aber mehrfach erhöht und gerissen. Ob Stuttgart 21 nach derzeitigem Kostenstand wirtschaftlich betrieben werden kann oder der Steuerzahler zusätzlich zu den bereits hohen Baukosten jährlich für Verluste draufzahlen muss, wurde nie von unabhängiger Seite geklärt.
  3. Die offiziellen Baukosten sind außerdem noch dadurch schöngerechnet, dass die Kosten für die „Nachbesserungen“ von Stuttgart 21 in anderen Bauprojekten wie dem „Bilgertunnel“ oder die Ertüchtigung des Bahnhofs Vaihingen versteckt wurden. Ohne Stuttgart 21 wären sie aber nicht notwendig geworden – in sachgerechter Betrachtung müssten ihre Kosten Stuttgart 21 zugeschlagen werden, was wahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeitsberechnung des Projekts hätte. Zudem besteht auch bei diesen Nachbesserungen der Verdacht, dass – wie schon bei Stuttgart 21 –, die Kosten kleingerechnet wurden und auch sie zu Fässern ohne Boden werden.

 

Grafik einer Dampflok unter Dampf

Behauptung der Befürworterseite

„Alle Alternativen zu S 21 sind weder durchgeplant noch finanziert, noch genehmigt. Man müsste im Falle der Beendigung komplett von vorne beginnen, was viele Jahre des Stillstandes bedeuten würde.“

Grafik einer Dampflok, die von einem Berg stürzt

Tatsache nach zehn Jahren

Schon wenige Monate nach der Volksabstimmung wurde die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 von 2019 auf 2020 verschoben. Später folgte eine Verschiebung auf 2021 und zuletzt eine auf 2025. Da im Planfeststellungsverfahren für Stuttgart 21 bereits festgestellt wurde, dass eine Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofes weniger Zeit in Anspruch nehmen würde, hat sich dieses Argument daher wenigstens relativiert, sofern es nicht völlig hinfällig ist.
Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Bahn ihrem Zeitplan immer noch hinterherhinkt: In einem Bericht der Stuttgarter Zeitung vom November 2018 war zu lesen, dass in drei Jahren, also im November 2021, alle 28 Kelchstützen des Tiefbahnhofs stehen sollen. Auf Anfrage Trott-wars teilte die Bahn mit, dass es aber nur 17 sind. Zwar versicherte ein Bahnsprecher, dass dies keine Auswirkungen auf die Inbetriebnahme habe – das galt aber auch schon für viele der Verzögerungen, die letztendlich zu den anderen Verschiebungen der Inbetriebnahme geführt haben.

 

Grafik einer Dampflok unter Dampf

Behauptung der Befürworterseite

„Kommt S 21 nicht, ist auch die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm gefährdet. Mit einer zeitnahen Realisierung wäre dann nicht zu rechnen.“

Grafik einer Dampflok, die von einem Berg stürzt

Tatsache nach zehn Jahren

Die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 wurde auf 2025 verschoben, die der Neubaustrecke nur auf 2022. Anders als hier nahelegt, ist es also durchaus möglich, die Neubaustrecke unabhängig von Stuttgart 21 in Betrieb zu nehmen.

 

Grafik einer Dampflok unter Dampf

Behauptung der Befürworterseite

„S 21 schafft zusätzliche Grünflächen und reduziert den Verbrauch wertvoller Flächen im Außenbereich.“

Grafik einer Dampflok, die von einem Berg stürzt

Tatsache nach zehn Jahren

Damit ist etwas verklausuliert ausgedrückt, dass man weniger Neubauflächen am Stadtrand bebauen lassen muss, wenn erstmal der Kopfbahnhof außer Betrieb genommen ist und dessen ehemaliges Gleisfeld bebaut werden kann. Die Stadt Stuttgart geht jedenfalls davon aus, dort Wohnraum schaffen und den angespannten Wohnungsmarkt entlasten zu können.
Laut dem Planfeststellungsbeschluss für den Tiefbahnhof ist der Bau vor allem dadurch gerechtfertigt, dass er Bauflächen schafft. Von einer „Parkerweiterung“ war erst im Rahmen einer Kampagne für Stuttgart 21 die Rede. Letztere scheint mittlerweile zwar wieder vergessen, nur wäre sie im Hinblick auf das belastete Stuttgarter Stadtklima deutlich sinnvoller: Laut einem stadtklimatischen Gutachten dienen die Gleisflächen des Kopfbahnhofs als Frischluftschneise. Würden man sie mit Gebäuden bebauen, wäre diese Frischluftschneise gestört und das Stadtklima würde sich verschlechtern. Der Haken ist allerdings, dass die Stadt dringend neue Wohnungen benötigt und zudem darauf spekuliert, den eigenen Anteil an den Baukosten von Stuttgart 21 durch den Verkauf von Immobilien wenigstens teilweise refinanzieren zu können.
Ob man die freiwerdenden Flächen also bebauen oder begrünen kann, wird sich erst noch zeigen müssen. Jedenfalls werden nach der Fertigstellung von Stuttgart 21 seine Bahnhöfe und Tunnels für wenigstens ein Jahr im Probebetrieb laufen und sich bewähren müssen. Sollte das Ergebnis nicht zufriedenstellen, wird man wenigstens Teile des Kopfbahnhofs erhalten müssen – und damit auch auf eine Bebauung des Gleisfeldes verzichten, sofern man nicht einem Vorschlag aus dem Landesverkehrsministerium folgt und unter dem Neubaugebiet einen weiteren Tiefbahnhof baut, der den bestehenden ergänzt. Denn auch das Landesverkehrsministerium hält Stuttgart 21 ohne Ergänzungen für nicht leistungsfähig genug, um den geplanten Deutschlandtakt zu bewältigen.


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