Vom 1. bis 5. Juni 1928 fand in Stuttgart die Kolonialtagung statt. Einer der zentralen Programmpunkte der Tagung war der Festzug, der sich am Sonntag, den 3. Juni 1928, durch die Stadt bewegte.  Neben zahlreichen Kolonialvereinen in Uniform waren auch „Eingeborene“ aus den ehemaligen Kolonien dabei (Foto: Stadtarchiv Stuttgart 2679 Nachlass Baumeister-Delius – FM 151/4, 158)

Die Wunden des Kolonialismus

„… bis zur völligen Niederwerfung der Eingeborenen“

Vor hundert Jahren verlor die verspätete Kolonialmacht Deutschland mit dem Ersten Weltkrieg auch ihre Territorien in Übersee. Das von der Stadt Stuttgart veranstaltete Symposion „Die vergessene Ausbeutung. Kolonialismus und der Südwesten“ machte sich auf Spurensuche – und mit ihm Trott-war.

Von Anne Tondorf

Nur langsam rückt die deutsche Kolonialgeschichte in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dabei haben die deutschen Kolonien mehr Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Mit diesen Spuren, welche die deutsche Kolonialvergangenheit in den Stadtbildern im Südwesten und in den Köpfen der heutigen Einwohner hinterlassen hat, befasste sich das Stuttgarter Symposion letzten November.

Vermögen auf dem Rücken von Sklaven

Deutsche Abenteurer, Handelsreisende und Forscher machten sich seit dem 16. Jahrhundert in Kolonien anderer Staaten nützlich. Der Referent Dr. Bernd-Stefan Grewe von der Universität Tübingen zeigte ein Beispiel aus Freiburg, als dort das ehemalige „Wirtshaus zu Amerika“ einer Neubebauung weichen musste. Das spätbarocke Haus wurde 1776 von Johann Baptist Messy errichtet, über den die Badische Zeitung am 2. April 2014 schrieb, er sei „1759 im Alter von 20 Jahren nach Surinam in Südamerika gesegelt, dort als Plantagenaufseher zu Vermögen gekommen und dann als reicher Mann nach Freiburg zurückgekehrt.“ Messy war stadtbekannt für seine Abenteuergeschichten aus seiner amerikanischen Zeit. Dass er sein Vermögen buchstäblich auf dem Rücken von Sklaven erworben hatte, die sich auf den Plantagen innerhalb weniger Jahre zu Tode schufteten, war dabei völlig aus dem Blick geraten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchten die europäischen Großmächte neue Absatzmärkte für ihre nunmehr industriell hergestellten Produkte, billige Rohstoffquellen und weltweiten Einfluss. Das Zeitalter des Imperialismus war angebrochen. Verbrämt wurde die räuberische Aneignung fremden Eigentums mit hehren Zielen wie der Bekämpfung des Sklavenhandels und Vermittlung höherer Kultur und sittlicher Bildung an die „Eingeborenen“, gern auch „Wilde“ genannt. Damit fielen Teile Asiens und ganz Afrika unter die eiserne Faust verschiedener europäischer Mächte.

Ein Platz an der Sonne

„Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“, erklärte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow in einer Reichstagsdebatte am 6. Dezember 1897. Das erst 1871 gegründete deutsche Kaiserreich wollte bei den Großen mitspielen: England und Frankreich, aber auch kleinere Staaten wie Belgien, die Niederlande und Portugal hatten da bereits die meisten Sonnenplätze in Übersee belegt.

Für Deutschland blieb ein koloniales Stückwerk aus Deutsch-Südwest-Afrika (heute Namibia), Deutsch-Ostafrika (heute Tansania), Togo, Kamerun, Kiautschou in China, Samoa und Deutsch-Neuguinea übrig. Damit stieg das Kaiserreich immerhin zur flächenmäßig drittgrößten Kolonialmacht nach England und Frankreich auf.

Mit eiserner Faust

Um den zahlenmäßig weit überlegenen neuen Untertanen klar zu machen, wer nun der Herr im Haus ist, ging man mit äußerster Brutalität vor: „… bis zur völligen Niederwerfung der Eingeborenen“, wie es ein Zeitgenosse formulierte. Kriege, Massaker und Strafexpeditionen waren die Mittel der Wahl, um aufständische „Eingeborene“ zu disziplinieren. Der Aufstand der Nama 1904 kostete etwa 10.000 von ihnen das Leben. Die Niederschlagung des Herero-Aufstands wenig später durch deutsche „Schutztruppen“, den von 60.000 bis 80.000 Herero nur 20.000 überlebten, gilt als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Für Disziplin sollten auch drakonische (Prügel-)Strafen sorgen. Die Rechtsprechung hatte dabei fest die ethnische Zugehörigkeit im Auge. Prof. Dr. Gesine Krüger von der Universität Zürich zeigte anhand einiger Beispiele aus dem heutigen Namibia, dass über Schwarze, die einen Weißen töteten, die Todesstrafe verhängt wurde. Im umgekehrten Fall kamen die weißen Täter in der Regel mit ein bis zwei Jahren Haft davon.

Wirtschaftlich waren die Kolonien ein Verlustgeschäft. Zumindest für die öffentliche Hand. Das koloniale deutsche Intermezzo endete mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Artikel 119 des Versailler Vertrages lautete: „Deutschland verzichtet zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche in Bezug auf seine überseeischen Besitzungen.“ Die Alliierten attestierten dem Kaiserreich, es habe sich als unfähig erwiesen, Kolonien zu verwalten.

Im Gegensatz dazu verstand man sich in Deutschland noch lange als die bessere Kolonialmacht. Mit Krankenhäusern und Missionsschulen, der Ausbau der Infrastruktur und Anleitung der „Eingeborenen“ zu nützlichem Tun sah man sich als Kulturbringer.

Die Faszination für Exotisches und scheinbar ursprüngliche Naturvölker tat ihr übriges. Entsprechende Vorträge waren Publikumsmagneten, Völkerschauen wurden gerne besucht. An den Universitäten, wie etwa an der Landesuniversität Tübingen, wurde das Fächerangebot in Kolonialwissenschaften entsprechend fleißig weiter ausgebaut mit Schwerpunkten in Geographie, Geologie, Völkerkunde und Tropenmedizin, aber auch Theologie.

Gewalttäter nicht mehr wegweisend

Den deutschen Kolonialheroen wurden landesweit Straßen gewidmet. Das sorgt heutzutage regelmäßig für Ärger, hatten sich die Namensgeber doch meist durch Brutalität gegenüber den einheimischen Völkern „ausgezeichnet“. Wie etwa Carl Peters, ein als Afrikaforscher missverstandener Sadist, der sich als Gründer von Deutsch-Ostafrika feiern ließ. Spitzname: „Hänge-Peters“, nach seiner bevorzugten Hinrichtungsmethode. Peters wurde 1897 unehrenhaft aus dem Reichdienst entlassen, aber später von Kaiser Wilhelm II. begnadigt.

Immer mehr Städte und Gemeinden verbannen die unwürdigen Namenspatrone von ihren Straßenschildern. 2009 wurde in Bietigheim-Bissingen die Karl-Peters-Straße in Eisvogelweg umbenannt. Ein Jahr später beschloss der Stadtrat von Korntal-Münchingen die Umbenennung der dortigen Carl-Peters-Straße und des HermannWissmann-Wegs. Wissmann war als Schutztruppenoffizier an der brutalen Niederschlagung des Wahehe-Aufstands beteiligt.

Stuttgart-Untertürkheim trennte sich 2008 von Theodor Leutwein, von 1895 bis 1905 als Kommandeur der Kaiserlichen Schutztruppe am Völkermord an den Herero beteiligt und Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika. „Seine“ Straße heißt jetzt „Am Weinberg“. Ein Jahr später warf auch Stuttgart-Stammheim Hermann von Wissmann zu Gunsten von Wolle Kriwanek vom Straßenschild.


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