Dr. Ralph Schertlen im Interview mit Trott-war

Dr. Ralph Schertlen im Interview mit Trott-war

Nicht mehr lange, dann steht die mit Spannung erwartete Wahl der neuen Stuttgarter Rathausspitze an. Traditionell beginnt nach den Sommerferien die heiße Phase des Wahlkampfes. Passend dazu haben wir mit Kandidaten für den höchsten Posten der Stadt gesprochen, unter anderem mit dem freien Kandidaten Dr. Ralph Schertlen.

51 Jahre | Freier Kandidat
Der promovierte Ingenieur und ehemalige „Stadtist“ Ralph Schertlen wurde in Bad-Cannstatt geboren. Von 2014 an war er fünf Jahre Stadtrat der Landeshauptstadt.
Wer wird das neue Stadtoberhaupt?
Am 8. November findet die Wahl des neuen Stuttgarter Stadtoberhauptes statt. Über 400.000 Bewohnerinnen und Bewohner sind zur Wahl aufgerufen.

Warum wollen Sie Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart werden?

Stuttgart aufwerten! Das ist nicht nur mein Wahlkampfslogan, sondern schlicht mein Antrieb, mich ein zweites Mal um den Chefsessel im Rathaus zu bewerben. Gerade in den vergangenen acht Jahren ist so viel in die falsche Richtung gelaufen, was dringend geändert werden muss. Das fängt bei verschleppten Sanierungen an, geht über langwierige Abläufe und Verfahren weiter und endet noch nicht bei eingeschränkten Bürgerdiensten wie z.B. geschlossenen Bürgerbüros oder der Kfz-Zulassung.

Ich will machen, gestalten, anpacken, handeln. Die Stadt wieder ins Glanzlicht stellen. Geld dafür liegt genug auf dem städtischen Konto.

Gesetzt den Fall, Sie werden gewählt: Wie gedenken Sie die Wohnungsnot in Stuttgart zu bekämpfen? Auch Notunterkünfte fehlen.

Die Stadt darf keine Grundstücke mehr an Investoren verkaufen, sondern muss über ihre Tochter SWSG selbst „bezahlbaren“ Wohnraum (Kauf und Miete) bauen. Aus meiner Sicht könnte sie auch weitere Grundstücke ankaufen.

Gerade im neuen Rosensteinareal sollte die Stadt als Flächeneigentümerin die Chance auf bezahlbaren Wohnraum nutzen. Eine gesunde soziale Durchmischung halte ich für erstrebenswert.

Modelle wie Baugemeinschaften sollten unterstützt werden, ebenso genossenschaftlicher Wohnungsbau.

Werden Sie die bestehenden Maßnahmen gegen Wohnungsleerstand verschärfen?

Die konsequente Anwendung der bestehenden Regelungen genügt, sie werden bisher nur nicht angewandt. Bevor jetzt Eigentümer zusammenzucken: auch Ankauf durch die Stadt sowie Mietgarantien können Optionen sein. Aber niemandem wird zwangsweise jemand in die Dachwohnung seines kleinen Häuschens einquartiert!

Viele Menschen in Stuttgart klagen über Verkehrslärm und Luftbelastung – zu viel Straßenverkehr, zu viele Baustellen, zu wenig Parkmöglichkeiten, schlechte Luftqualität und so weiter. Was möchten Sie unternehmen, um die Lebensqualität zu verbessern?

Grundsätzlich sollte sowohl für Bahn als auch für Kfz ein Ring (aus-)gebaut werden, so dass nicht sämtlicher Verkehr mitten durch die Stadt bzw. über zwei Haltestellen muss. Auch eine bessere Verknüpfung von S- und U-Bahnhaltestellen wäre wünschenswert, ebenso endlich der Ausbau von P+R am Stadtrand oder in der Region.

Beim Stichwort „Mobilitätswende“ zucken viele Leute regelrecht zusammen, da sie um ihre Alltagsmobilität fürchten. Das darf man nicht ignorieren, ebensowenig wie 53% Kfz-Halterquote.

Deswegen muss man über Angebote dafür sorgen, dass die Menschen das jeweils geeignetste Verkehrsmittel auswählen. Um zum Schloßplatz zu kommen, dürfte das sicherlich nicht das Auto sein, fürs Gartengrundstück irgendwo in der Region eher nicht Bus und Bahn.

Radverkehr spielt für mich eine große Rolle, zumal ich selbst in der Stadt 80% aller Strecken auf dem Rad zurücklege. Aber das in den 90ern skizzierte Modell der Hauptradrouten halte ich für niemanden für zielführend, deswegen würde ich – schon aus Gründen der Umsetzungsdauer, aber auch der allgemeinen Akzeptanz – ein Radnetz auf Nebenstraßen ausweisen, dort jedoch bevorrechtigt. So bleiben die Kfz-Hauptachsen leistungsfähig.

Barrierefreiheit gehört für den Fußverkehr flächendeckend realisiert.

Randale in Stuttgart in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni: Wie sind solche Ausschreitungen künftig zu verhindern?

Leider kam das Ereignis nicht aus heiterem Himmel, sondern durch langes Wegschauen. Mehr Überwachung und Verbote sind keine Lösung. Es braucht Prävention, aber auch schlicht Aufenthaltsflächen für Jugendliche und junge Menschen, weswegen ich Nachverdichtung auf den letzten freien Flächen in der Innenstadt kritisch sehe. Aber auch die Schließung von Clubs durch die Stadt ist ein Beitrag in die falsche Richtung.

Es könnten eher Versuche unternommen werden, gezielt Selbstversorgungsplätze für Jugendliche einzurichten, auf denen sie sich aufhalten können, die von ihnen abends betreut werden (evtl. mit Getränkeausgabe) und die am Ende des Abends von einer Aufsichtsperson abgenommen werden. Diese Aufsichtsperson sollte bevorzugt Sozialarbeiter sein. Als letzte Konsequenz bleibt bei Verfehlungen eine schnelle Bestrafung, wenn Grenzen überschritten werden.

Wie soll die Stadt sozialpolitisch aufgestellt werden, um sozialen Frieden zu wahren und die Situation von Randgruppen – Migranten, arme, behinderte, suchterkrankte und obdachlose sowie sozial benachteiligte Menschen – zu verbessern und erträglicher zu machen?

Die Stadt prakiziert derzeit bereits eine gute Sozialpolitik. Hier kann man an vielen Stellen getrost sagen: weiter so! Es gibt jedoch Luft nach oben (und genug Geld dafür). Manche Dinge fangen im Kleinen an, z.B. noch nichtmal beim Geld, sondern damit, dass Menschen gerne etwas tun würden, das sozial sinnvoll ist. Es kann ein Straßenfest sein, ein Altennachmittag auf einem öffentlichen Platz usw. Hier sollte die Stadt a) die formalen Hürden so gering wie möglich halten und b) die Akteure durch erfahrene Begleiter bei den ersten Schritten unterstützen.

Eine Idee, die ich schon zur OB-Wahl 2012 geäußert habe, ist nach wie vor aktuell: das sogenannte „1000 Akkuschrauber-Programm“. Dabei sollen Jugendliche in ihrem Stadtteil etwas realisieren können, z.B. eine Sitzbank, eine Hütte auf dem Spielplatz, etwas für den Allgemeinbedarf. Dazu werden sie von Rentnern unterstützt, die eine entsprechend handwerkliche Berufserfahrung haben und diese gerne weitergeben möchten. Das Material dafür stellt die Stadt, fachlich werden Handwerker und Planer am Rande mit eingebunden. Selbstverständlich kann man die Gruppe der Beteiligten ausdehnen auf alle, die Lust dazu haben.

Trott-war e.V. erspart der Landeshauptstadt Stuttgart jährlich nachweislich mindestens 500.000 Euro Sozialkosten, hat aber selbst in Notzeiten wie der Corona-Pandemie keinerlei finanzielle Hilfe erhalten. Könnten Sie sich für eine dauerhafte Unterstützung der Einrichtungen, die die Kommune finanziell entlasten, erwärmen, um zu verhindern, dass solche sinnvollen Institutionen künftig insolvent werden könnten und eingestellt werden müssten?

Klares JA! Es sollte ein Geben und Nehmen sein, weswegen insbesondere Institutionen, die die Stadt entlasten, mindestens in Notsituationen Hilfe erhalten sollten. Wie ich bei einem Gespräch mit Helmut Schmid während eines Besuchs bei Trott-war anlässlich des Umzugs in die neuen Räume schon als Stadtrat gesagt habe, würde ich versuchen, so eine Förderung durch den Gemeinderat zu bekommen. Trott-war leistet mindestens so wertvolle Arbeit wie viele andere Institutionen, die heutzutage bereits gefördert werden.