Die Straße hat er nie wirklich verlassen: Harry Pfau engagiert sich Montag bis Samstag gegen Lebensmittelverschwendung (Fotos: Nina Förster)

Dieser Artikel erschien erstmals in der September-Ausgabe 2021.

Lebensmittel retten im Stuttgarter Süden

Ein kleiner Beitrag

Nach 13 Jahren ist er weg von der Straße, ihr aber doch treu geblieben: Harry Pfau betreibt seit August 2020 den Lebensmittelverteiler „Harrys Bude“ in Stuttgart-Süd. Ehrenamtlich rettet der 60-Jährige Lebensmittel, die ansonsten in der Tonne landen würden. Von Montag bis Samstag werden durch seinen Einsatz etliche Stuttgarterinnen und Stuttgarter mit kostenlosem Obst, Gemüse und Brot versorgt.

Von Nina Förster

Der weiße Container mit Theke befindet sich neben der Marienkirche in der Tübinger Straße. Schon von weitem ist die große Fahne erkennbar, die den Schriftzug „Harrys Bude“ und das Gesicht des Ehrenamtlichen abbildet. Das Projekt der Gemeinde Sankt Maria in Kooperation mit dem Verein Foodsharing rettet Lebensmittel, die von Supermärkten nicht mehr verkauft werden können. Diese können bei Harrys Bude abgegeben und an Interessierte ausgegeben werden. Zwischen Kirche, Skateboardern, allerlei Passanten und Menschen, die ihre Tage im Schatten der Paulinenbrücke verbringen, erzählt Pfau, wie er nach 13 Jahren Obdachlosigkeit dazu kam, Kopf und Aushängeschild des Projekts zu werden.

Geboren und aufgewachsen ist Pfau in Stuttgart und hat den Großteil seines Lebens in der Landeshauptstadt verbracht. Als er vier Jahre alt war, starb seine Mutter. Weil sein Vater sich nicht um ihn kümmern wollte, wuchs er fortan in einem Heim eines kirchlichen Trägers auf. Sein heutiges Engagement sieht er unter anderem in seiner christlichen Erziehung begründet. So war für Pfau schon immer selbstverständlich, nicht nur an sich selbst, sondern auch an andere zu denken. Vielleicht war er auch deshalb fast 30 Jahre lang als Rettungsschwimmer bei der DLRG aktiv. „Jetzt leiste ich halt auch einen kleinen Beitrag, indem wir hier Lebensmittel retten“, sagt er über seine aktuelle Tätigkeit.

Verschiedene Gründe haben dazu beigetragen, dass der gebürtige Stuttgarter in die Obdachlosigkeit rutschte. Erst eine Schulterverletzung führte dazu, dass er wieder herausfand. Als obdachloser Mensch hatte Pfau keine Krankenversicherung und konnte sich keine Behandlung leisten. Erst durch das MedMobil (einer gemeinnützigen Einrichtung, dessen medizinisches Fachpersonal ehrenamtlich auch Unversicherten hilft) wurde ihm ein Arzt vermittelt. So ging es von der Straße in eine Notunterkunft. Von dort an nahm Pfaus Leben eine Wende. Zunächst arbeitete er jeden Donnerstag in einer Suppenküche, bevor er im Rahmen der Vesperkirche Mittagessen ausgab und Kontakte zur Gemeinde der Marienkirche knüpfen konnte. Schließlich kam von der Gemeinde die Anfrage, ob er sich vorstellen könnte, einen Lebensmittelverteiler zu eröffnen und zu betreiben.

Nicht mehr wegzudenken

„Ich hätte mir vor einem Jahr auch nicht vorstellen können, dass ich da so etwas mache“, sagt Pfau heute. Dass er mittlerweile ein fester Bestandteil der Kirchengemeinde im Stuttgarter Süden ist, zeigt sich während unserer Unterhaltung. Zweimal wird das Gespräch unterbrochen, weil andere Ehrenamtliche etwas mit ihm besprechen wollen.

Geburtstag feiern, das hat Pfau das letzte Mal mit 30 Jahren gemacht. „Der 30. war noch etwas Besonderes“, erzählt er am 30. April, seinem Geburtstag. Danach hätten Geburtstage immer mehr an Bedeutung verloren. Vier Kuchen, zahlreiche Geschenke und Luftballons in Form einer 60, die noch vor 12 Uhr ihren Weg zu Harrys Bude gefunden haben, lassen das Gegenteil vermuten. Seinen 60. Geburtstag nahmen zahlreiche Ehrenamtliche und Bekannte zum Anlass, persönlich zum Gratulieren vorbeizukommen. „Bleib genauso wie du bist, Harry“, sagt eine Ehrenamtliche zu Pfau, als sie ihm einen selbstgebackenen Käsekuchen überreicht.

Frau steht vor Harrys Bude und wird von Harry bedient

Bei Harrys Bude ist jeder willkommen. In erster Linie geht es darum, noch verzehrbare Lebensmittel vor der Tonne zu bewahren

Nicht immer sieht Pfau, ob Menschen bedürftig sind oder nicht. „Das ist eine ganz heikle Nummer“, stellt er fest. „Manche definieren das über den Lebensstandard, also ist jemand obdachlos, hat jemand nicht viel zu essen“, führt er weiter aus. Andere wiederum kommen „nur, um ein bisschen zu reden, das ist in gewisser Hinsicht auch Armut“, findet der 60-Jährige. Für viele Menschen ist ein Besuch bei Harrys Bude auch mit Scham verbunden. „Das ist für die Leute auch eine totale Überwindung, die haben sich das ein Leben lang nie vorstellen können“, sagt Pfau und spricht von Menschen, die niemals damit gerechnet hätten, sich in einer finanziellen Notlage wiederzufinden. Da die oberste Priorität aber darin besteht, Lebensmittelverschwendung zu verhindern, muss sich bei Harrys Bude niemand als bedürftig ausweisen.

Wie geht es weiter?

Mit seinem Engagement ist Pfau noch nicht am Ende. Zukünftig will er Obdachlose in der Stadtgemeinschaft sichtbarer machen. „Das sind Menschen, das ist nicht nur eine Statistik, da steckt jedes Mal ein Schicksal dahinter“, erklärt der ehemals Obdachlose, der aus Erfahrung spricht. Für die Zeit nach der Corona-Pandemie plant er eine einwöchige Demonstration, an welcher Obdachlose teilnehmen sollen. Das Ganze soll vor dem Rathaus stattfinden, wo die Menschen dann auch übernachten werden. So will Pfau alle Menschen, die aus dem Rathaus, umliegenden Läden und Büros kommen, auf die Situation obdachloser Bürgerinnen und Bürger in Stuttgart aufmerksam machen.

Momentan erhält er für seine Arbeit eine Aufwandsentschädigung von der Stadt Stuttgart. Zur Diskussion steht, ob eine Stelle geschaffen werden soll. Selbst mit einer 50-Prozent-Stelle würde er sich zufriedengeben, schließlich müsse er „keine Millionen mehr verdienen, die Zeit ist vorbei“. Allgemein ist fraglich, wie es mit Harrys Bude weitergeht. „Wir stoßen hier jetzt auch an unsere Grenzen. Wenn man das jetzt noch weiterentwickeln will, braucht man ja auch einen Platz, wo man entsprechend Sachen zwischenlagern kann“, erzählt Pfau und verweist auf den begrenzten Lagerraum im weißen Container.

Zirka 150 Kundinnen und Kunden pro Tag verdeutlichen, dass das Projekt auf eine hohe Nachfrage unter der Stuttgarter Bevölkerung stößt, Tendenz steigend. Den kleinen Beitrag, den Pfau leistet, scheinen viele Menschen dankbar anzunehmen – und der ist wohl größer, als er selbst denkt.