Dr. Martin Cüppers erforscht die Verbrechen des Nationalsozialismus (Foto: Nico Nissen)

Dieses Interview erschien erstmals in der Mai-Ausgabe 2017.

Ganz normale Männer?

Die Verbrechen der Nationalsozialisten

In der Bevölkerung und sogar von einigen Historikern wurde lange behauptet, dass die Täter des Holocaust und anderer nationalsozialistischer Verbrechen entweder fanatisierte Irre waren oder sich vor allem aus Angst vor Strafe beteiligt hätten. Doch wie waren sie wirklich und was trieb sie wirklich an? Nico Nissen unterhielt sich mit Martin Cüppers von der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, die die Verbrechen des Nationalsozialismus erforscht.

Was macht ganz normale Männer und Frauen zu Massenmördern?

„Ganz normale Männer“ ist der deutsche Titel des wichtigen Buches von Chris Browning, „Ordinary Men“. Die deutsche Übersetzung ist unglücklich, weil der Titel suggeriert, dass Mord damals normal gewesen sein könnte, was aber eindeutig nicht der Fall war. Auch im nationalsozialistischen Deutschland hat Mord einen strafbewehrten Verbrechenstatbestand dargestellt, und trotzdem hat es staatlich sanktionierten Massenmord gegeben. Das war aber keineswegs normal, sondern in jedem Fall „Geheime Reichssache“ und mit vielerlei Geheimhaltungsbemühungen behaftet – obwohl das oft auch nicht funktioniert hat.

Handelt es sich um überzeugte Nationalsozialisten, Sadisten, Psychopathen?

Die Motive sind so unterschiedlich wie die soziale Herkunft oder das Alter. Das heißt, Sie haben da sowohl jemanden, der radikaler Nationalsozialist und Judenhasser war, aber genauso kühle Karrieristen, die sich dem Nationalsozialismus verschrieben haben. Genauso haben Sie Männer und einzelne Frauen, die sehr wohl begriffen haben, dass durch den Massenmord Reichtümer anzuhäufen waren. Was wir anhand der Aussagen von Überlebenden oder Zeugen immer wieder feststellen können, ist, dass die Akteure im Nationalsozialismus geklaut und geplündert haben, obwohl das sicher nicht dem nationalsozialistischen Ideal entsprochen hat.

Quellen lassen nur eingeschränkt Aussagen zu

Zeigten sie mal Mitleid oder Reue?

Ich würde sagen, in weit über 90 Prozent der Fälle ist Reue nicht in Ansätzen erkennbar. Aber Justizakten sind vielleicht nicht unbedingt das geeignete Mittel, mögliche Reue glaubhaft zu machen. Mit der Ermittlung und Vernehmung ist der Akteur mit einer unmittelbaren Strafandrohung konfrontiert. Da muss er sich eine glaubwürdige Verteidigungsstrategie überlegen, und Reue impliziert ja, dass eine gewisse Schuldhaftigkeit selbst festgestellt wird, und das ist als Verteidigungsstrategie nun mal nicht das Vielversprechendste.

Der weitaus größte Teil der jüdischen Opfer wurde in den besetzten Gebieten Osteuropas ermordet, in Ghettos, Konzentrationslagern und abgelegenen Gebieten. Zuvor hatte man sie entrechtet und verschleppt. Täter und Opfer blieben dadurch unter sich – die Täter mussten sich nicht vor ihren Familien und der Gesellschaft rechtfertigen, und die Opfer waren isoliert und fanden daher nirgends Schutz. Hat das vielleicht dazu beigetragen, die Täter zu enthemmen und sie so erbarmungslos zuschlagen zu lassen?

Ich würde meinen, das ist nicht der entscheidende Umstand. Es gibt ja auch Belege, die eine andere Logik und Reihenfolge deutlich machen. Wir haben die Massenerschießungen in der Sowjetunion, die beginnen im Juli 1941. Vielfach findet dieser Prozess von Ghettoisierung und gesellschaftlicher Isolierung dort überhaupt nicht statt, sondern eine SS-Einheit erreicht einen Ort, und am gleichen Tag wird die dortige jüdische Gemeinde, oft mit Hilfe von lokalen Helfern, festgestellt, gefangen genommen, aus der Stadt getrieben und erschossen. Das ist ein anderer Mechanismus, als er im Deutschen Reich oder im besetzten Polen stattgefunden hat, die jüdische Bevölkerung zu isolieren, dadurch auch Solidarität der nichtjüdischen Bevölkerung unwahrscheinlicher erscheinen zu lassen, sie sogar zu ghettoisieren, den Besitz zu rauben und als letzten Schritt dann zu ermorden. Aber dieser Prozess hat so längst nicht überall stattgefunden. Das heißt, für die Täter ist es nicht entscheidend, dass dies sozusagen in einem Vakuum ohne Solidarisierung und ohne die Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen als lebendige Elemente einer funktionierenden Gesellschaft stattfand. Sicher ist es ebenso ausschlaggebend, dass im nationalsozialistischen Deutschland ab den 1930er Jahren oder den späten 1920er Jahren, teilweise sogar früher, antisemitische Propaganda bestanden hat, die Juden als weniger wertvolle Individuen der Gesellschaft feststellte, die Ressentiments schürte, die dann suggerierte, dass es naheliegend sei, die Juden und Jüdinnen eben auch zu töten.

Niemand musste mitmorden

Hannah Arendt meinte, die Täter hätten die wirklichen Verhältnisse pervertiert, indem sie sich selbst als Opfer betrachteten, die mit den Morden eine sehr belastende, aber notwendige Aufgabe zu erledigen gehabt hätten. Spiegelt sich dieses Denken in den Aussagen der Angeklagten wider?

(Pause) Das ist schwierig zu entscheiden, weil sich in den Nachkriegsaussagen der ausfindig gemachten Akteure ganz schnell als Verteidigungsstrategie einschleicht, dass Mann und in wenigen Fällen Frau nur Befehle befolgt und sich gar nicht mit eigenem Antrieb an diesen Taten beteiligt hätte, wenn überhaupt eine Beteiligung eingeräumt wird. Das, was Hannah Arendt feststellt, hat nur wenig mit dem zu tun, was Beschuldigte aussagen, weil das eben auch ein Schuldeingeständnis wäre. Aber in manchen Aussagen spiegelt sich das durchaus wider, was die große Philosophin festgestellt hat, nämlich, dass es eine schwere Aufgabe gewesen ist, diese Verbrechensdimension zu erledigen, weil sich das Deutsche Reich gegenüber dem „internationalen Judentum“ oder dem „Bolschewismus“ oder anderer austauschbarer nationalsozialistischer Ideologeme verteidigen musste.

Ich glaube, sie bezog es eher darauf, dass die Täter aus ihrer eigenen Sicht gezwungen gewesen wären, ihre menschlichen Regungen wie Mitleid zu unterdrücken.

Genau das ist ja damit gemeint. Das äußert ja auch der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, in seiner berüchtigten Posener Rede: Ihr – gemeint waren die an diesem Tag in Posen versammelten SS-Gruppenführer – wisst, wie schwer das ist, so und so viele Ermordete vor sich liegen zu sehen, aber wir mussten halt diese schweren Aufgaben erledigen, weil wir uns und das Deutsche Reich verteidigen mussten.

Gab es Menschen, die den Befehl verweigerten und nicht mitmordeten, und was geschah mit ihnen?

Die hat es tatsächlich gegeben, in den verschiedensten Situationen. Und das ist ja interessant festzustellen. Chris Browning (Verfasser der oben erwähnten wichtigen Studie über ein Polizeibataillon, das mehr als 80.000 Menschen ermordete) geht beispielsweise bei der Ordnungspolizei und den berüchtigten Polizeibataillonen von einer Verweigerungsquote von etwa zehn Prozent aus. Denen ist dann auch im Grunde genommen nichts passiert. Es gibt keinen einzigen Fall, bei dem belegt ist – ganz anders, als das Beschuldigte nach 1945 vor westdeutschen Gerichten glaubhaft machen wollten –, dass eine Verweigerung Konzentrationslagerhaft oder sogar den Tod zur Folge gehabt hat.

Ich danke Ihnen für das Interview!


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