Als Antisemitismusbeauftragter muss Michael Blume sich zwangsläufig auch mit Verschwörungsmythen auseinandersetzen
(Foto: Kai Loges, die arge lola)
„Verschwörungsmythen sind wie eine umgekehrte Religion“
Im Gespräch mit dem Antisemitismusbeauftragten Dr. Michael Blume
Dr. Michael Blume ist Religionswissenschaftler, Politikwissenschaftler und seit 2018 Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich zudem mit Verschwörungsthemen, berät, hält Vorträge und klärt auf, wie sich diese entwickeln – besonders in Krisenzeiten. Kirsten Stumpe und Vincent Brecht haben ihn getroffen und unter anderem gefragt, wie Antisemitismus und Verschwörungsmythen zusammenhängen und wie man mit Verschwörungsgläubigen umgehen sollte.
Ganz grundsätzlich: Verschwörungstheorie, Verschwörungsglaube oder Verschwörungsmythos – was ist denn nun Ihrer Ansicht nach die korrekte Bezeichnung? Und warum?
Die richtige Bezeichnung, die jetzt auch der Bundespräsident benutzt hat, ist Verschwörungsmythos. Warum? Natürlich gibt es in der echten Welt Verschwörungen – denken wir zum Beispiel an Autokonzerne, die Abgaswerte manipulieren. Das ist aber auch überprüfbar, dafür haben wir die freie Presse, dafür haben wir Justiz und parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Das ist es, was eine Theorie ausmacht: Ich kann sie überprüfen.
Wenn aber jemand sagt, die Juden kontrollieren die Welt und sperren gemeinsam mit Frauen Kinder ein, um aus diesen Adrenochrom (Anm. d. Red.: Stoffwechselprodukt, das angeblich von Eliten zur Verjüngung des menschlichen Körpers genutzt wird.) zu gewinnen, dann ist das nicht mehr überprüfbar und dann kann man es auch nicht mehr widerlegen. So wird es zum Verschwörungsglauben. Leute glauben daran, auch wenn es gar keine Belege dafür gibt, aber sie lassen sich auch nicht mehr umstimmen. Dann haben wir es nicht mehr mit Verschwörungstheorien zu tun, sondern mit Verschwörungsmythen.
Wenn wir nun aber den Begriff „Mythos“ hören, denken wir eigentlich an etwas Positives. Ein Mythos ist doch etwas, das gerne von Generation zu Generation weitergetragen wird. Und nun soll der Begriff negativ besetzt werden und für Verschwörungen herhalten?
Es ist tatsächlich so, dass wir gerade im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und auch Sexismus verstehen müssen, dass alles gut oder böse sein kann. Beispielsweise Religion: Ich bin ein religiöser Mensch und halte Religion für etwas Positives, muss aber auch zugeben, dass man mit Religion fürchterlich schlimme Dinge anrichten kann. In allen Religionen gibt es Gewalt, auch im Christentum oder Buddhismus, obwohl es von den Religionsgründern vielleicht gar nicht ableitbar ist. Oder denken Sie an Musik: Musik ist etwas absolut Positives. Aber man kann mit Musik auch Menschen manipulieren, aufhetzen und sie sogar als Folter einsetzen, in Gefängnissen beispielsweise. Das ist genau die Erkenntnis, die wir haben müssen: Alles was wir Menschen hervorbringen, kann zum Guten oder Schlechten verwendet werden. Auch die Mythen.
Okay, dann haben Sie uns hiermit überzeugt und wir sprechen fortan auch vom Verschwörungsmythos. Wo würden Sie dann aber die Grenze ziehen, ab wann aus einem legitimen kritischen, hinterfragenden Weltbild ein Hang zu Verschwörungsmythen wird?
Das Kriterium ist die Überprüfbarkeit. Wenn ich Leuten sage, dass es die Illuminaten im 18. Jahrhundert in Bayern gab, diese aber nach zehn Jahren verboten wurden und es seit 1800 nach wissenschaftlicher Kenntnis nirgendwo auf der Welt mehr eine Zusammenkunft von Illuminaten gab, dann sagen aufgeklärte Menschen: „Okay, das ist historisch interessant.“ Verschwörungsgläubige aber sagen dann: „Da sehen Sie mal, wie gut die sind.“
Im Gegensatz dazu würde ich sagen, dass man seriöse Kritik daran erkennt, dass sie sich auch auf die Kritik selbst bezieht. Es spricht also nichts dagegen, wenn jemand Impfstoffe kritisiert und kritisch betrachtet. Läuft er dann aber einem Professor nach, der verkündet, Israel würde jetzt zur Hölle werden und dessen Aussagen überhaupt nicht kritisch hinterfragt, ist das eben keine Kritik mehr.
Antisemitismus schwingt auch in neuen Verschwörungsmythen mit
Verschwörungsmythen gab es schon immer. Was man aber immer wieder feststellen konnte, ist, dass sie zu Krisenzeiten eine besonders starke Verbreitung finden. Woran liegt das?
Ein Verschwörungsmythos macht die Welt wieder einfach. Alles, was mich betrübt, was mir Angst macht, was mir vielleicht auch an mir selbst nicht gefällt, blende ich in einem Verschwörungsmythos aus und mache andere dafür verantwortlich. So zum Beispiel Juden, Freimaurer oder Frauen – sie sind die häufigsten Gruppen, die in Verschwörungsmythen angegriffen werden. Das funktioniert dann erstmal für die Menschen. Es fühlt sich an, als hätten sie alles verstanden und wären Erwachte, die begriffen haben, was eigentlich hinter der Pandemie, der Wirtschaftskrise oder dem Krieg steckt. In Krisenzeiten, in denen Menschen mit einem Virus oder der Klimakrise konfrontiert sind und Angst haben, nehmen diese Mythen deswegen auch zu. Nur dann kann ich die Angst von mir selbst abspalten. Viel Angst ist gleich viel Verschwörungsglauben.
Sie haben nun mehrmals die Juden dahingehend erwähnt, dass diese immer wieder als angebliche Schuldige ausgemacht wurden und werden. Gibt es da einen roten Faden, sozusagen immer wiederkehrende Muster?
Verschwörungsgläubige sind sehr fixiert. Sie wiederholen immer die gleichen Mythen. Das sehen wir im Antisemitismus und Antifeminismus: Im 15. Jahrhundert hat man gesagt, dass Juden und Frauen den Hexensabbat begehen und christliche Kinder töten, um aus diesen Hexensalbe herzustellen. Heute, im 21. Jahrhundert, haben wir zum Beispiel bei Xavier Naidoo mit genau dem gleichen Verschwörungsmythos zu tun: Juden und Frauen foltern Kinder und stellen aus ihnen ein Verjüngungsmittel her.
Warum immer die Juden? Es gibt einen einfachen Hintergrund, der schon im Namen Antisemitismus steckt: Der Noah-Sohn Sem ist in der jüdischen Tradition der erste, der eine Schule in Alphabetschrift etablierte und Alphabetisierung und Bildung förderte. Damit ist das Judentum die allererste Religion des Buches. Ein zwölfjähriger Jesus, ein Handwerkerkind, kann schon so gut lesen und schreiben, dass er drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren kann. All der Hass, der sich gegen die Moderne, Bildung und Wissenschaften richtet, hat sich gegen das Judentum angesammelt. Hass, Ressentiments und Neid beginnen in der Antike, ziehen sich bis zur Neuzeit durch das Christentum und auch durch den Islam.
Das Ergebnis ist, dass wir heute Antisemitismus auch in Ländern wie Südkorea oder Japan begegnen, in denen es niemals jüdische Gemeinden gegeben hat. Und trotzdem gibt es dort heute Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass die Juden ihr Land kontrollieren würden.
Wer sind die Menschen, die an solche oft zweifelsfrei antisemitischen Mythen glauben?
Es sind vor allem Menschen, die in ihrer Kindheit unsichere, unglückliche Bindungen und vielleicht auch Gewalt erlebt haben und so das Gefühl bekamen: Die Welt ist ein böser Ort. Es können Menschen sein, die Ingenieure oder Professoren sind und trotzdem ihre ganze Intelligenz dafür einsetzen, Verschwörungsmythen zu konstruieren.
Es gibt also Antisemitismus quer durch die Bevölkerung. Wir finden ihn am stärksten im rechten Bereich, stark im muslimischen und auch im linken Bereich. In Baden-Württemberg ist der sogenannte libertäre Antisemitismus sehr stark. Es handelt sich hier um Leute, die sich selbst in der Mitte sehen und ihre „Freiheit“ verteidigen wollen. Die sagen „Ich bin weder rechts noch links. Aber die Rothschilds und Bill Gates wollen mir meine Freiheit wegnehmen!“.
Geschäft mit riesigen Summen
Der überwiegende Teil der Menschen hier in der Region Stuttgart lebt in vergleichsweise großem Wohlstand. Trotzdem befindet sich hier der Geburtsort der Querdenken-Bewegung. Wie kann das sein?
Querdenken hat tatsächlich von vornherein eher auf begüterte Kundschaft gezählt. Sie wollten keine Leute mit wenig Geld. Es ging von Anfang an darum, unterschiedliche Milieus zusammenzubringen und abzuschöpfen, ihnen Produkte zu verkaufen, sie zum Querschenken zu überreden. Mit Gold, Esoterik und Finanzanlagen werden im Verschwörungsbereich riesige Summen umgesetzt. Bei Querdenken in Stuttgart sprach der recht prominente Redner Max Otte (Anm. d. Red.: Vorsitzender der CDU-nahen Werteunion) und behauptete allen Ernstes, die Pandemie diene der Bargeldabschaffung. Und wenn Sie uns Schwaben Angst um Bargeld machen, dann sind Sie reich! Zufällig bietet Max Otte Finanzprodukte an – das nenne ich Verschwörungsunternehmertum. An diesen Verschwörungsbewegungen verdienen Menschen also richtig viel Geld. Deswegen brauchen wir uns auch gar nicht wundern, wenn sie auf eine zahlungskräftige, gerne esoterische und teilweise auch anthroposophische Kundschaft abzielen.
Kann man daraus schließen, dass gut betuchte Menschen besonders stark in der Verschwörungsszene vertreten sind? Oder spiegeln sich alle Gesellschaftsschichten in den Verschwörungsbewegungen wider?
Ich würde tatsächlich sagen, dass wir im Grunde alle gefährdet sind, gerade jetzt in der Krisensituation. Ich kenne auch viele Menschen, die dort hineingerieten und wieder rausgekommen sind. Als sie zum Beispiel ihren Job verloren haben und es ihnen ganz schlimm ging, haben sie an Weltverschwörungen geglaubt. Als es ihnen wieder besser ging, haben sie sich gefragt, was eigentlich mit ihnen los war, dass sie so etwas glauben konnten. Deswegen bin ich zum Beispiel auch viel an Schulen. Nicht, weil Kinder und Jugendliche das Problem wären. Sondern weil es wichtig ist, diese Verschwörungspsychologie zu verstehen und sich auch selbst davor zu schützen. Es kann im Grunde jeder und jedem von uns passieren.
Wenn wir uns heute rückblickend die ersten Querdenken-Demonstrationen wie letztes Jahr auf dem Cannstatter Wasen anschauen, kann man die Entwicklung der Bewegung bis heute wohl als Radikalisierung bezeichnen. Was ist der Grund? Ist nur noch der schon zuvor radikale Rest übrig oder haben sich bisher harmlose Teilnehmer radikalisiert?
Es gibt leider beides. Den harten Kern bilden zum Beispiel rechtsextreme oder religiös fundamentalistische Leute mit sehr langem Atem, die gut auch mal zwei oder drei Jahre in einer Verschwörungsbewegung mitmachen können. Gleichzeitig kann jede und jeder da hineinschlittern: Wenn schon sehr viel Zeit und Geld in etwas investiert wurde und man sich vielleicht mit Freunden und Familie darüber verkracht hat, wird es immer schwerer zuzugeben, dass das alles Blödsinn war und man sich hat täuschen lassen. Ein großer Teil findet dennoch den Ausstieg, weswegen Querdenken heute viel kleiner ist, als es letztes Jahr war.
Aber die Leute, die immer noch dabeibleiben, müssen sich sozusagen immer weiter radikalisieren. Man muss sich das wirklich vorstellen wie körperliche Schmerzen, wir nennen das kognitive Dissonanz. Leider wissen wir von Verschwörungsbewegungen, dass sie umso radikaler werden, je länger sie existieren.
Vor einigen Tagen wurde ein Kassierer ermordet, weil er einen Kunden zum Tragen einer Maske aufforderte. Müssen wir mit einem von Verschwörungsglauben getriebenem Terrorismus rechnen?
Ja. Nach eigenen Angaben wähnte sich der Täter als Opfer einer riesigen Verschwörung und fühlte sich bedrängt. Mit dem abscheulichen Mord wollte er „ein Zeichen setzen“, also Terror verbreiten. Und leider höre ich seitdem von vielen Menschen, dass sie die Maskenpflicht aus Angst nicht mehr ansprechen wollen. Das ist verständlich und zeigt die Gefahr.
Zum Nachdenken statt zum Querdenken anregen
Viele Menschen mussten in den vergangenen Monaten erleben, wie sich Personen in ihrem Umfeld von Verschwörungsmythen vereinnahmen haben lassen. Man hat Angst, diese Menschen zu verlieren, aber Diskussionen gestalten sich oftmals hoffnungslos. Was können Sie raten, wie man verschwörungsgläubigen Menschen im eigenen Umfeld begegnen sollte?
In Freiburg haben wir dafür die Beratungsstelle Zebra geschaffen, bei der sich Betroffene und Angehörige von Verschwörungsgläubigen beraten lassen können. Für Opfer von Antisemitismus schufen wir zwei Beratungsstellen von OFEK, einem Verein, der sich gegen antisemitische Gewalt und Diskriminierung einsetzt.
Generell müssen wir uns klarmachen, dass Verschwörungsglauben wie eine umgekehrte Religion funktioniert. In einer ordentlichen Religion lerne ich, dass gute Mächte die Welt regieren, dass ich auch mal einen Witz machen und zweifeln darf. Aber im Verschwörungsglauben glauben Menschen wirklich, dass böse Mächte die Welt regieren. Man muss sich das vorstellen wie Menschen, die in einer Sekte leben. Sie glauben, sie müssten alle anderen bekehren, teilweise zerbrechen Freundschaften, Beziehungen und sogar Ehen.
Was hilft, ist nicht in die direkte Konfrontation zu gehen – das macht die Leute nur noch radikaler, vor allem im Internet. Was eher hilft, ist Fragen zu stellen: „Woher hast du das? Was ist deine Quelle? Ist sie vertrauenswürdig?“ Man sollte also eher die Leute anregen, selbst nachzudenken und ihnen seriöse Quellen anbieten. Wir haben deswegen den Podcast „Verschwörungsfragen“ geschaffen, es gibt auch gute Bücher. Manche von den Betroffenen haben schon Zweifel und können dann, wenn sie allein sind, auch mal in einem Buch lesen oder einen Podcast hören. In einer Gruppe oder in einer Diskussion wird man das nie erreichen. Verschwörungsgläubige brauchen teilweise auch lange Zeit, um dort wieder herauszukommen – wenn sie es denn überhaupt schaffen.
Mehr statt weniger Geld notwendig!
Wenn dieses Interview in der November-Ausgabe erscheint, werden sich die Gewinner der Bundestagswahl in Koalitionsgesprächen befinden. Was wünschen Sie sich von der neuen Bundesregierung? Was kann oder sollte der Staat tun, um Verschwörungsgläubigen entgegenzuwirken?
Wir brauchen Strukturen, um Menschen, die von Verschwörungsglauben betroffen sind, zumindest anbieten zu können, dort wieder herauszukommen. Wenn wir die Radikalisierungen wenigstens noch bremsen wollen, dann brauchen wir eine klarere Justiz und vor allem die Aufklärung von Betrug und Geldwäsche. Solange Menschen andere mit Verschwörungsmythen abzocken können, werden sie es tun.
Ich würde zudem sagen, dass die Expertenkommission des Bundestags recht damit hatte, als sie Beauftragte forderte. Ich muss selbst sagen: Ich bekomme so viel Hass und so viel Trolling – ständig in diesen Hass zu schauen, ist nicht schön und es macht nicht jeden Tag Spaß. Derzeit muss ich mich sogar mithilfe des Landtags gegen nicht abgesprochene Kürzungen meines ohnehin mickrigen Budgets wehren. Eigentlich sollte es aufgestockt werden. Aber manche wünschen sich einen Beauftragten, der nur Arbeit simuliert.
Ich akzeptiere, dass man solche Themen mit Gesichtern bearbeiten muss. Durch allgemeine, abstrakte Reden werden wir das nie hinbekommen, sondern wir brauchen Menschen, die sich zeigen und sich diesem Verschwörungsglauben und auch dem Hass entgegenstellen. Ich kann von mir selbst sagen, dass es nicht immer Freude macht, aber es macht meistens Sinn.
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