Gab sich zwar schon staatsmännisch, zur Kanzlerkandidatin wurde dann aber Co-Parteichefin Annalena Baerbock. (Foto: Lutz Jaekel)

„Wir wollen, dass jede und jeder verlässlich vor Armut geschützt ist“

Viele sahen Robert Habeck bereits als nächsten Bundeskanzler – und somit den ersten Grünen in diesem Amt. Annette Bruhns von der Hamburger Straßenzeitung Hinz&Kunzt fragte ihn stellvertretend für mehrere deutsche Straßenzeitungen, wie seine Partei das Land gerechter machen will.

Das Interview erschien in unserer April-Ausgabe. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Grünen noch nicht auf Annalena Barbock als Kanzlerkandidatin festgelegt.

Herr Habeck, vor Ihnen sitzen 15 deutsche Straßenzeitungen, angesiedelt zwischen Kiel und München, Düsseldorf und Dresden. Gemeinsamer Nenner unserer Fragen: Wie rot sind diese Grünen eigentlich, die womöglich ab Herbst mitregieren?

Wenn mit „rot“ gemeint ist, eine gerechtere, sozialere Gesellschaft zu schaffen, kann ich sagen: Wir haben in den letzten drei Jahren unser sozialpolitisches Profil deutlich geschärft.

Tatsächlich will Ihre Partei Hartz IV abschaffen und durch eine „Grundsicherung“ ersetzen, eine staatliche Leistung, die mehr Geld verspricht und an weniger Bedingungen geknüpft wäre. Der Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Es ist richtig, dass wir Hartz IV überwinden wollen. Wir wollen eine Garantiesicherung, damit jede und jeder verlässlich vor Armut geschützt ist. Sie sollte mit mehr Geld mehr Teilhabe ermöglichen und Anreize geben, anstatt die Menschen mit Sanktionen zu gängeln. Von einem bedingungslosen Einkommen unterscheidet sich das, weil es eben doch an eine Bedingung geknüpft ist: Die Garantiesicherung sollen die erhalten, die es brauchen.

Gegen Kinderarmut wollen die Grünen auch etwas tun: Eine steuerliche „Kindergrundsicherung“ soll Kinder unabhängig vom Beziehungsstatus der Eltern fördern. Dafür soll das Ehegattensplitting weichen. Würden Sie eine schwarz-grüne Regierungsehe für die Abschaffung der ehelichen Splittingvorteile riskieren?

Alle Kinder sollten dem Staat gleich viel wert sein. Das ist heute nicht der Fall. Gutverdiener erhalten für ihre Kinder faktisch mehr Geld, Kinder aus einkommensschwachen Haushalten haben deutlich schlechtere Chancen. Deshalb wollen wir eine Kindergrundsicherung, die allen Kindern garantiert, was sie zum Leben brauchen.

Und wenn nicht, würden Sie dann über eine Abschaffung des Ehegattensplittings Koalitionsgespräche platzen lassen?

Politik bedeutet, Veränderungen voranzubringen – und nicht, sich durch rote Linien zu lähmen. Wir argumentieren jeweils für unsere Ideen und versuchen, das Beste zu erreichen.

… und Hartz IV? Wäre die Abschaffung für Sie verhandelbar?

Es geht darum, politische Mehrheiten zu schaffen und dann möglichst viel durchzusetzen. Eine Status-quo-Regierung wird es mit uns nicht geben. Was wir dann klima-, sozial- oder europapolitisch durchsetzen, hängt auch davon ab, wie gut wir bei der Wahl abschneiden.

Im grünen Grundsatzprogramm steht oft das Wort „Umverteilung“. Würden unter einem Kanzler oder Vizekanzler Robert Habeck die Reichen zur Kasse gebeten?

Ich halte die höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen für angemessen und notwendig.

Unterschiede zwischen Politik und Wissenschaft

Stört es Sie, als „netter Mann von nebenan“ rüberzukommen und nicht als Staatsmann?

Muss das ein Gegensatz sein?

Heute tragen Sie ganz staatstragend Anzug. Was sagt der Staatsmann zur Corona-Krise: Würden Sie das Land in den knallharten Lockdown schicken, den Wissenschaftler um die Virologin Melanie Brinkmann als No-Covid-Strategie empfehlen?

Ich sorge mich sehr, dass die Strategien nicht mehr greifen, die wir vor dem Auftauchen der britischen und südafrikanischen Mutationen aufgestellt haben. Wenn die Mutante deutlich ansteckender ist als die Urform, dann dürften die bisherigen Inzidenzwerte als Schwelle nicht ausreichen. Das trifft freilich auf eine schwierige Stimmung, auf die Not von Alleinstehenden und Familien, gerade den Ärmeren. Und es ist eine Mammutaufgabe für die Politik: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, die Regeln einzuhalten, und auf der anderen den gesellschaftlichen Druck, mehr Freiheiten zu gewähren. Das ist der Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft: Die reine wissenschaftliche Lehre führt nicht automatisch zu einer erfolgreichen Umsetzung.

Also keine No-Covid-Strategie?

Vorsicht muss Gebot der Stunde sein. Wenn wir zu früh lockern, gefährden wir den Weg aus der Pandemie. Und deshalb muss jetzt – und hätte schon längst – die volle Energie darauf gehen, die Voraussetzungen zu verbessern: Wenn wir als Allererstes Grundschulen und Kitas vorsichtig und schrittweise für Wechselunterricht öffnen, müssen Millionen von Schnelltests an Kitas und Schulen. Es braucht einen Kraftakt, um die Produktionskapazitäten für Impfstoffe zu steigern. Außerdem sollten jetzt schnellstmöglich alle Gesundheitsämter die Tracking-Software Sormas einführen, um live Infektionsherde nachzuverfolgen. Die nutzt bis heute nicht einmal die Hälfte.

Zoonosen wie Covid-19 entstehen, wenn der Mensch dem Tier zu wenig Raum lässt. Die Grünen wollen, dass Deutschland keine freien Flächen mehr versiegelt. Wollen Sie jungen Familien verbieten, auf dem Land zu bauen?

Nein. Ich will, dass junge Familien gut wohnen können, auf dem Dorf und in der Stadt. Aber zu den Zoonosen: Unter anderem ist der globale Wildtierhandel, an dem Deutschland teilnimmt, eine echte Gefahr, weil er eben auch zoonotische Krankheiten begünstigt. Die Regulierung des Wildtierhandels muss daher ganz oben auf die Agenda …

Wohnrecht ins Grundgesetz

… und wie sieht es mit dem Platz für heimische Wildtiere aus?

Die Artenvielfalt ist auch durch den Verlust von Lebensräumen gefährdet. Die Bundesregierung selbst will den Flächenverbrauch halbieren. Und scheitert seit Jahren daran. Wir haben im Land eine starke Konkurrenz um Flächen: fürs Wohnen, für die Landwirtschaft, für Energie, für Infrastruktur, für Gewerbe … Es muss viel ineinander spielen: Es sollte zum Beispiel nicht günstiger sein, neue Flächen zu versiegeln als die alte Tankstelle abzureißen, den Boden zu sanieren und dort zu bauen.

Ihre Partei will das Recht auf Wohnen im Grundgesetz verankern. Was versprechen Sie sich davon?

Eine Umkehr von der sozialpolitischen Logik, wonach ein wohnungsloser Mensch erst beweisen muss, dass sie oder er mit den eigenen vier Wänden verantwortungsvoll umgehen kann, bevor er einziehen darf. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Sicherheit eines Dachs über dem Kopf animiert dazu, verantwortlicher und selbstbestimmter zu leben. Das Wohnrecht und die Grundsicherung sind für uns Pfeiler einer die Würde des Menschen achtenden Gesellschaft.

Apropos Würde: Viele Obdachlose wollen nicht in die Winternotprogramme, weil sie Angst vor den Sammelunterkünften haben. Sie befürchten, ausgeraubt zu werden oder sich mit Corona anzustecken. In Hamburg trägt die grüne Regierungspartei die Großunterkünfte mit. Wie stehen Sie zum Ruf nach Einzelunterbringung?

Die Hotels und Hostels stehen leer: Dort Zimmer bereitzustellen, könnte sowohl den Hoteliers wie Obdachlosen helfen. Es gibt ja dazu Vorstöße, vor allem von privaten Initiativen, aber auch von der öffentlichen Hand. Ich finde es absolut richtig, angesichts der Pandemie diese Angebote deutlich zu erweitern.

Bundestag und Europaparlament haben beschlossen, bis 2030 die Obdachlosigkeit abzuschaffen. Würde eine grüne Regierung Bundesmittel bereitstellen, damit die Kommunen Obdachlose in Wohnungen einquartieren, wie es etwa Finnland vormacht mit seinem Housing-First-Programm?

Housing First überzeugt und korrespondiert mit unserer Forderung nach Wohnen als Grundrecht. Studien zufolge finanziert sich das quasi selbst: Man stellt am Anfang das Geld bereit, das man später wieder einspart, etwa für Sozialarbeit, Psychotherapie, Polizei, Prozesse. Wenn der Bund ernst machen will mit der Abschaffung der Obdachlosigkeit, sollte er den Kommunen bei Housing-First-Programmen helfen.

Schaffe, schaffe, Häusle baue …

Der Trend geht in die gegenläufige Richtung: In Großstädten wie Hamburg hat sich die Zahl der Obdachlosen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Die Mehrheit stammt aus armen EU-Staaten. Sie kommen, um zu arbeiten, landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen und stranden am Ende auf der Straße. Wie wollen die Grünen diese Elendsspirale beenden?

Wenn Menschen ihr Leben in ihrem Heimatland aufgegeben haben, um hier zu arbeiten, und dann scheitern, sind sie ja trotzdem da. Wenn dann nur Obdachlosigkeit bleibt, verschärft sich das Elend. Deshalb wollen wir sie besser sozial absichern. Entscheidend ist aber, schon früher anzusetzen, also konsequent gegen Schwarzarbeit und Drückerlöhne zu kämpfen. Damit beginnt die Spirale ja viel zu oft.

Viele Unions-, aber auch SPD-Politiker befürchten eine Sogwirkung, wenn EU-Arbeitnehmer*innen gleich behandelt würden, also dass dann immer mehr Arbeitslose aus Rumänien, Polen oder Bulgarien einwandern. Wie sehen Sie das?

Im Moment geraten die Leute ja vor allem in miserable Beschäftigungsverhältnisse. Wenn man die Gleichbehandlung an das Suchen und die Aufnahme von Arbeit knüpft, ist sie gerechtfertigt. Die Leute kommen her, um zu arbeiten, und nicht, um zu verarmen.

Aus der Stadt mit den höchsten Mieten, aus München mit der Zeitung Biss, kommt die Frage, wie die Grünen für billigen Wohnraum in teuren Städten sorgen wollen?

Bauen! Vor allem öffentliches Bauen hilft. Und wenn privat gebaut wird, sollten Quartiere einen Wohnungsanteil für Ärmere vorhalten müssen.

Berlin hat einen Mietendeckel statt der Mietpreisbremse, der grüne Bezirk Friedrichshain trommelt für ein starkes Vorkaufsrecht der öffentlichen Hand bei Immobilien. Modelle für den Bund?

Das sind Modelle für die extremen Hochpreisgebiete in den Kommunen. Es sind Eingriffe in den Markt, und man wird sehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Aber wenn Wohnen ein Recht ist, braucht der Staat auch Mittel, um es durchsetzen zu können.

Aus welchen Etats soll das Geld herkommen – für die Grundsicherung, für Housing-First-Wohnungen, für Frauenhäuser: Wollen die Grünen weniger für Rüstung zahlen? Oder den Bauern weniger geben? Sollen die Steuern steigen?

Die Investitionsausgaben würden wir kreditfinanzieren. Dazu gehören Neubauten und Sanierungen, aber auch der Bau von Frauenhäusern, Obdachlosenunterkünften. Wir werben seit langem dafür, die Schuldenbremse dafür zu reformieren, und es gibt jetzt auch Stimmen aus der CDU in die Richtung. Konsumtive Ausgaben wie die Garantiesicherung müssen sich aus Steuern refinanzieren. Die größte Gerechtigkeitslücke, die wir haben, sind dabei nichtbezahlte Steuern. Wenn wir konsequent Steuerbetrug bekämpfen würden, stünden EU-weit zwei- bis dreistellige Milliardensummen zur Verfügung. Da müssen wir handeln.

Und was würden Sie als Erstes ändern, wenn Sie Bundeskanzler wären?

Am liebsten: Das Containern erlauben! Das ist gewiss nicht die wichtigste Reform. Aber das Verbot, brauchbare Lebensmittel zu retten, ist eine Sache, die mir besonders unsinnig erscheint und die man schnell ändern könnte.

Wir sprachen auch noch mit den anderen Spitzenkandidaten. Finden Sie hier die weiteren Interviews:

• 100.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr: Interview mit SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz
• „Staatlich kontrollierter Wohnungsbau führt nicht zu mehr bezahlbarem Wohnraum“: Interview mit dem Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet
• „Nirgendwo sonst entscheidet der Zufall der Geburt so sehr über Lebenschancen“: Interview mit dem FDP-Spitzenkandidaten Christian Lindner
• „Wir brauchen ein anderes Wirtschaften und einen sozialen Ausgleich“: Interview mit der Linken-Spitzenkandidatin Janine Wissler