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Klassiker müssen reifen

Ich habe Literatur studiert. Zwar „nur“ im Nebenfach und die des Mittelalters, aber dennoch sollte man von mir eigentlich eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber aktueller Literatur erwarten. Doch ich komme bei der Menge der alljährlich veröffentlichten Titel einfach nicht mehr mit.

Von Nico Nissen

Ich gebe mir größte Mühe, wenigstens die Klassiker der europäischen Literatur zu schaffen. Doch schon jetzt habe ich mehr Bücher, als ich bis zu meinem Lebensende werde lesen können. Sowohl im Wohn- als auch im Schlafzimmer ist keine Wand mehr frei. Dabei habe ich bereits einen großen Teil des hierzulande geltenden literarischen Kanons eines Bildungsbürgers durch: Storm, Fontane, Raabe, Balzac, Kafka, Shakespeare, Lenz, Schiller, Goethe, Lessing, Homer …; dazu noch die Werke, die mir mein gewiss etwas schrulliges Fachidioten-Studium bescherte, wie das Nibelungenlied, Parzival, Erec, Iwein, die Lieder Walthers von der Vogelweide und anderer Minne- und Spruchdichter … Erschwert wird mir das Vorhaben allerdings von meinem Interesse an Sachbüchern über so ziemlich alles und der modernen Konkurrenz von Film und Fernsehen sowie Computerspielen. Kürzlich wurden mir auch noch Hörbücher empfohlen – für lange Autofahrten oder das Im-Stau-Stehen in und vor Stuttgart, wenn ich mal selbst fahren sollte. Pah, was für ein Frevel! Lesen kann ich noch selbst! Irgendwann … Zum Glück habe ich gar kein Auto, Signorina!

Doch ohne geringste Rücksichtnahme auf mein Bestreben wirft der deutsche Buchmarkt laut seinem Branchenverband, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, alljährlich mehr als 70.000 neue Bücher auf den Markt – Tendenz sinkend, doch immer noch unüberschaubar. Der deutschsprachige Buchmarkt ist nach dem englischsprachigen der weltweit zweitgrößte.

Ohne mich!

Ich möchte nicht sagen, dass die Bücher alle schlecht wären – ganz im Gegenteil: Die Autorinnen und Autoren, die sich in diesem umkämpften Markt durchsetzen konnten, müssen erzählerisch etwas zu bieten haben. Wie bei den Klassikern denke ich, dass sich ein qualitativer Standard durchsetzt. Doch woran sind die Bücher zu erkennen, die man wirklich gelesen haben sollte? Gelesen haben sollte nicht für das Bildungsbürgergespräch am Rande der Cocktailparty, sondern als Bereicherung für das Leben! Ich komme da nicht mehr mit und bin inmitten der Frühjahrs- und Herbstprogramme der großen Belletristik-Verlage, den x Sendungen des Literaturkritikers Denis Scheck, der Neuauflage des Literarischen Quartetts, den Lobhudeleien von Literaturkritikern und Laudatoren und den mehr oder minder nützlichen Rezensionen auf Amazon überfordert ausgestiegen. Das klingt alles interessant, aber ich kann unmöglich alles lesen!

Ein Buch ist wie Käse – es muss reifen

Ich warte ab und trinke Tee – doch noch ohne Cracker mit Cheddar, denn der muss noch reifen und Würze entwickeln. Wie ein Buch. Gemütlich lehne ich mich zurück, sehe, was nach dem Hype der ersten Monate, nach einem, zwei, drei oder mehr Jahren noch im Gespräch ist und weitere Auflagen erlebt. Das Zeug zum lesenswerten Klassiker hat, was trotz unserer kurzlebigen Zeit noch im Gespräch ist. So wehen die Winde und trennen die Spreu vom Weizen.


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