Männlich/ Weiblich/ Taucher

Eine Kurzgeschichte von Peter Kensok

Klassentreffen nach zwanzig Jahren. Dieter freut sich riesig darüber, seine ehemaligen Mitschüler wieder zu sehen. Die Stimmung in Heikes Garten ist super. Ihre Kinder spielen ausgelassen mit den Kindern der anderen Gäste. Viele sehen aus wie ihre Eltern, nur eben in Klein.Die spätsommerliche Sonne tut allen gut. Es riecht nach Gegrilltem und frisch aufgebackenem Baguette, und aus dem Zapfhahn fließt wie aus einem Zauberfass schier unendlich kühles Bier. Dieter stößt mit Martin und Paul an. Die drei Männer vom Grill.

Dieter: Zwanzig Jahre, das ist echt lange her. Noch mal zwanzig Jahre drauf, dann rennen hier die ersten Enkel herum.

Martin: Und noch mal zwanzig Jahre danach wartet am Gartentor der Notarzt mit den Defimotoren.

Paul: Du meinst Defibrillatoren.

Martin: Irgendwas für den Motor eben. – Es sind fast alle da. Ob das in zwanzig oder vierzig Jahren auch so sein wird?

Dieter: Wohl eher nicht. Wer weiß, was nach der nächsten Pandemie hier los ist.

Paul: Wenn es für Martin schon Defimotoren gibt, erfinden die Notärzte bis dahin sicher noch was Neues dagegen.

Martin: Habt ihr Carlotta schon gesehen? Wollte die nicht auch kommen?

Es ist plötzlich still am Grill.

Martin: Wie, ihr wollt doch nicht sagen, dass Carlotta …

Er zeichnet mit der Grillzange ein Kreuz in die Luft.

Dieter: Nein, aber weißt du denn nicht …

Martin: Was weiß ich nicht?

Dieter: Carlotta heißt seit zehn Jahren Carl.

Martin: Echt jetzt?

Dieter und Paul nicken.

Martin: Aber sie war doch auf dem Abschlussball meine Partnerin.

Dieter: Ja, und sie war das schönste Mädchen überhaupt …

Paul: … und ihr habt getanzt wie Fred Astaire und Ginger Rogers in Schwarz-Weiß. Alle haben geglaubt, ihr seid ein Paar.

Martin: Ich weiß, dass ihr das alle geglaubt habt.

Dieter: Und ich weiß, dass du das genossen hast, weil alle Jungs eifersüchtig waren.

Paul: Und die Mädchen waren eifersüchtig, weil du so eng mit Carlotta warst.

Martin: Und jetzt ist sie Carl?

Paul: Ja, ich habe einmal ein Foto von ihm gesehen und finde, dass Carlotta auch als Carl ein toller Typ ist.

Martin: Du meinst mit allem Drum und Dran?

Paul: Na ja, so ein Foto war das nun auch wieder nicht.

Dieter: Carlotta war immer ein besonderes Mädchen. Sie war auch meine Lieblingsmitschülerin.

Paul: Aber gewusst hat sie wohl schon immer, dass das mit dem „Mädchen oder Junge“ bei ihr ein bisschen komplizierter ist. – Warte mal. Kannst du die Steaks wenden? Ich schau mal, ob Carl uns schon was gesimst hat. Er wollte sich zumindest melden.

Martin: Ich fand Carlotta klasse, weil sie mit uns Jungs rumgehangen hat und im Tor sogar besser war als alle anderen Kicker aus dem Jahrgang. Die anderen Mädels „lifpelten“ da bereits über die Jungs vom „Gymi“ nebenan, die „fooo füüüf“ waren. „Oh, my Goooood!“. Da war Carlotta anders.

Paul: Sportlich war sie richtig gut. Sie ist später sogar als Tauchlehrerin ziemlich herumgekommen.

Martin: Als Carlotta oder als Carl?

Paul: Ich glaube, bereits als Carl.

Martin: Weißt du, wie Carlotta den Umbau zu Carl vertragen hat?

Paul: Red‘ doch nicht so: Umbau… Ich habe gehört, dass er ziemlich damit zu kämpfen hatte. Die Operationen, dann die Hormone… Und bis dann alles auch amtlich eingetragen war.

Dieter: Zwischendurch soll er sogar Schwierigkeiten gehabt haben zu sprechen und inhaltlich zu verstehen, was jemand sagt.

Martin: So wie damals in Englisch? Wisst ihr noch, dass die Böhner ihr handschriftlich unter eine Klassenarbeit geschrieben hat, ihr Aufsatz sei „grottenschlecht“. Die Eltern müssten kommen. Und wir hatten daraus gelesen, ihr Aufsatz sei „carlottenschlecht“.

Dieter: Das war für uns dann bis zum Abschluss „eine ganz besondere Note“. Carlotta hat selbst am meisten mitgelacht. – Ja, wohl so wie in Englisch. Aber dass er nicht alles verstanden hat, das hat ihm sogar den Job auf einer Bohrinsel eingebracht. Für Seenotfälle und Schweißen unter Wasser.

Martin: Bohrinsel – ihr verarscht mich, oder?

Paul: Carl hat sich in seiner Gemeinde nicht mehr wohlgefühlt. Irgendwo zwischen Frau und Mann. Seiner Familie war das zu viel. Er ist mehrmals umgezogen und verlor schließlich seine Stelle als Tauchlehrer in einem Leistungszentrum.

Dieter: Sein Chef wollte niemanden mit „Divers“ als Geschlecht, wegen der Umkleiden und so.

Martin: Und wie kommt Carl dann auf eine Bohrinsel. Ich meine, da sind doch überhaupt die harten Stiernacken…

Paul: Mit Carl kann man heute ebenso Pferde stehlen wie damals mit Carlotta.

Martin: Das haben wir tatsächlich einmal gemacht. Auf der Weide von Heikes Eltern dort drüben.

Paul: Soweit ich weiß, ist das gerade noch mal gut gegangen. Heike! Wir reden gerade von dir: Können wir am Grill noch einmal drei Halbe haben?

Heike: Klar doch, nur schön weitergrillen. Kommt sofort.

Paul: Carl weiß einfach, was er unter Wasser kann. Und die Stiernacken wissen das auch, weil er manchen von ihnen wohl bereits das Leben gerettet hat. Keine Ahnung, aber vielleicht waren sie nach der ersten gemeinsamen Dusche verwirrt. Aber Carl hat dann geschrieben, sie hätten ihn regelrecht adoptiert. Ich würde niemandem raten, ihn beim Landgang auch nur schräg anzuschauen. Ich glaube, dann hättest du, Martin, mit den Stiernacken recht.

Die drei legen neue Steaks auf, verteilen fertige Würstchen und Gemüsiges auf Teller. Heike bringt drei Bier und eilt zum Salatbüfett weiter, wo neue Schüsseln aufgetragen werden. Martin, Paul und Dieter meditieren in der Grillhitze.

Martin: Ich finde Carl sehr mutig.

Dieter: Carl hat sich so verhalten, als sei alles ganz normal. Und so sollten wir das auch tun. – Lasst uns darauf anstoßen und darauf, dass er auch einmal unsere Carlotta war.

Paul: Ja, und dann die Stellenanzeige. Carls Englisch war noch immer so carlottenschlecht wie in der Schule. Und gerade deshalb hat er sich auf das Angebot auf der Bohrinsel beworben.

Martin: Was hat denn in der Stellenanzeige gestanden?

Paul: Da stand ausdrücklich drin „Divers wanted!“

„Pling!“ Paul kramt sein Handy aus der Tasche.

Paul: Eine SMS von Carl. Schaut mal: „Ich stelle gerade fest, dass ich mich auf der Bohrinsel noch immer so wohlfühle wie als Carlotta mit euch Rackern in der Klasse. Übrigens habe ich Englisch nachgelernt und kenne inzwischen den Unterschied zwischen Male/Female/Divers und Männlich/Weiblich/Taucher. In zwanzig Jahren feiere ich mit euch mit. Versprochen! Dann habe ich mein eigenes Ressort und bringe jedem eine Sauerstoffflasche mit. Vielleicht braucht ihr die dann – selbst wenn dann hoffentlich keiner mehr weiß, was Corona einmal angerichtet hat. Das Leben ist so schön! Als divers und als Taucher. – Carl“

Foto des Autors Peter Kensok
Peter Kensok ist Autor, Kommunikationstrainer, Coach und Lehrtrainer für Verfahren des systemischen Kurzzeitcoachings. Zu seinen Kurzgeschichten inspirierten ihn Begegnungen auf Reisen, seine Klienten und oft genug der Zufall, weil das Leben die besten Geschichten schreibt. Seine Bücher zu gesundheitlichen Themen und zu Fragen des Selbstmanagements erschienen auch auf Ungarisch und Russisch. Seine Methode zum Werte-Management unterrichtet er international. Der gelernte Journalist lebt in Stuttgart und betreibt unter anderem die Seiten www.peters-blog.net und die www.buecher-blog.net.