An einem Sonntagnachmittag parke ich in einem Stuttgarter Vorort. Schon oft habe ich hier geparkt. Mit Mann und Kindern, um eine befreundete Familie zu besuchen. An diesem Tag bin ich ohne Anhang. Ich besuche auch nicht die Familie, sondern nur einen Teil davon, Chris – oder Noana! Von vorne kommt mir eine weitere bekannte Familie entgegen, die in der gleichen Straße wohnt. Was ich denn hier mache? Ich merke, wie ich mir verlegen durch die Haare streiche. Die Familie kennt „Chris“. Sie weiß aber noch nichts von Noana, mit der ich verabredet bin. Leider fehlt mir die Spontaneität. Ich hätte sagen können: „Ich besuche Familie R. zu einem Interview für Trott-war.“ Stattdessen sage ich, ich treffe Chris für eine Personenreportage. Das war falsch. Ich hätte sagen müssen, ich treffe Noana.

Von Adriane Dietrich

Ein zarter Duft von Damenparfum dringt aus der Wohnung. Yves Saint Laurent, wie ich später erfahren werde. Ich sehe in ein lächelndes Gesicht. Lange dunkle, offene Haare umspielen es, ich sehe schwarzen Lidstrich über den Augen. Die Jeans ist kombiniert mit einem Hemd, das an eine Bluse erinnert. Strelizien zieren es. Seit dem letzten Zusammentreffen hat Noana sich verändert. Sie sieht „fraulicher“ aus. Diesen Ausdruck, wie sie mir noch erzählen wird, hat ihre Frau für sie gefunden. Der würde besser passen als „weiblich“.

Nach einer warmen Umarmung, einer fröhlichen Begrüßung, weist sie mir den Weg ins Wohnzimmer. Das ich ja kenne, es zum letzten Mal aber gesehen habe, als es Chris noch gab. Chris ist Vergangenheit. Absolute Vergangenheit. Das spüre ich, noch bevor wir uns gesetzt und unterhalten haben. Doch dann sitzen wir auf dem Sofa unter der Dachschräge, draußen strahlt die Sonne aus einem knallblauen Himmel wie aus dem Bilderbuch. Ich fühle mich wohl. Pudelwohl. So wohl habe ich mich in Gegenwart des Mannes Chris nie gefühlt. Noana sitzt neben mir, die Beine übereinandergeschlagen. Daneben sitze ich, im Schneidersitz. Die Kinder wissen, dass Besuch da ist, und spielen in ihrem Zimmer. Musik läuft, 90er Jahre. Da waren wir im Teenie-Alter, in dem oft die eigene Identität hinterfragt wird. Noana erzählt, wie sich die Frage nach ihrer eigenen Identität schon früh als roter Faden durch ihr junges Leben zog. Sie merkte, dass sie anders war. Hat sich überlegt, ob sie adoptiert sei. Der Vorname war ein großer Störenfried seit sie denken kann. Es war eben ein Männername. Männernamen gefallen ihr nicht. Außer Gustav.

Der Mutter will es Noana immer recht machen. Die sucht früher sogar die Kleidung für den Sohn aus, die schrecklich ist, einfallslos. Später kauft Noana sogar selbst Kleidung im dem langweiligen muttergeprägten Stil. Die Probleme werden so nicht weniger, die Fragen nach dem Ich bleiben. Noana will eigentlich andere Farben, andere Sachen. Pink war in den 90er Jahren angesagt. Sogar für Männer. Ein rosafarbenes Fahrrad wäre heute schon toll. „Das nächste wird pink!“ Von Geschlechtsdysphorie, die mit Angst, Depression, Reizbarkeit einhergeht, weiß sie damals noch nichts. Sie lebt unwissend als „unglückliche Frau im falschen Körper“. Die beiden fünfjährigen Mädchen kommen aus ihrem Spielzimmer zu uns. Sie gesellen sich ins Wohnzimmer dazu, bleiben aber mit sich beschäftigt. Die eine hat einen kleinen Teddy an einer Schnur und sagt, es wäre eine Schildkröte.

Papa gibt es so nicht mehr

Es wird Kaffeezeit. Wir fummeln erst einmal den Kaffeebereiter zusammen. Kurze Zeit später sitzen wir zu viert am Esstisch, es gibt Obst und selbstgebackene Cookies. Die Kinder schälen sich eine Satsuma. Wie ich lerne, ist dies eine Zitrusfrucht ähnlich der Mandarine, ich bekomme einen Schnitz zum Probieren – sehr lecker. Meine Aufmerksamkeit wird aber auf die Cookies gelenkt. „Ja, die sind Eigenkreation.“ Und mit dem neuen Vornamen hört sich das Ganze richtig toll an: „Noanas Cookies ist besser als Chris’ Cookies“, meint die Bäckerin persönlich.

Ich mache mir Gedanken über die Kinder. Die sehen die Veränderung an ihrem Vater, vor allem natürlich die optische. Noana freut sich über Komplimente der Kinder, wenn die sagen: „Du bist heute aber hübsch.“ Ob ich nicht ihre geschminkten Augen bemerkt hätte, fragt sie mich in diesem Zusammenhang. Erst da registriere ich, dass mir das zwar nicht entgangen ist, aber einer Frau ein Kompliment wegen geschminkter Augen zu machen, ist mir nicht in den Sinn gekommen.

Eine Folge von Rick und Morty sorgte unlängst für die „Idee“, wie Noana es nennt, dass sie möglicherweise im falschen Körper leben könnte. Die Idee festigt sich binnen Tagen. Es ist keine Idee mehr, es ist eine Tatsache, es fühlt sich gut und richtig an. Für diese Aussicht auf Lösung und Erlösung setzt Noana alles auf eine Karte. Sie unterrichtet ihre Frau. Für die fügt sich bald alles zusammen. Noana sei schon immer die typischere Frau, das „größere Mädchen“ von beiden gewesen. So waren beispielsweise Handtaschen für Noana schon immer spannend. Für ihre Art und Weise, wie sie sich die Hände eincremt, wurde sie in der Vergangenheit bereits für schwul gehalten. Da kam schon ein gewisser Neid auf Frauen auf, die sich hübsch machen „dürfen“. Mich interessiert: Was wird aus der Ehe? Muss sie geschieden, annulliert werden? Nein, nichts. In Zukunft werden die beiden eine Ehe zwischen zwei Frauen führen. Dass das nicht selbstverständlich ist, dürfte klar sein. Noana hat großes Glück, dass ihre Frau sie als Mensch und nicht als Mann liebt.

Wie es denn zur Wahl dieses ungewöhnlichen Vornamens kam, muss ich auch noch wissen! Wie schön, sich den eigenen Namen aussuchen zu dürfen. Wem kommt dieses Privileg schon zu? Ich freue mich für Noana, die mehr als 40 Jahre unter einem ungeliebten männlichen Namen zu leiden hatte! Nun heißt sie ganz ähnlich wie Prinzessin Moana aus „Pans Labyrinth“. Nicht nur ein mädchen-, sondern fast ein märchenhafter Name!

Neue Wertschätzung des eigenen Körpers

Ich frage, wie es nun mit der „Optik“ weitergeht und warum sie ihr wichtig sei. Noana erzählt mir, wie sich das über die Monate seit ihrer „Entdeckung“ entwickelt hat: Anfangs dachte sie, da sie sich ja nicht als Mensch verändert habe, müsse sie ja auch nicht anders aussehen, nur etwas hübscher kleiden würde ausreichen. Im Laufe der Zeit habe sie aber festgestellt, dass sie aufgrund ihres Äußeren nach wie vor als Mann wahrgenommen wird – das hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass sie sich unfreundlich und unfair behandelt gefühlt hat. Damit soll jetzt Schluss sein, sie fühlt sich ihr ganzes Leben schon als Frau – und möchte, dass alle das auch merken.

Mit Stolz spricht sie dann vom ersten Besuch beim Frauenarzt und dass die eigentlich bald anstehende Hormonbehandlung nun doch verschoben werden muss wegen einer Knieoperation. Wie kann es denn mit Anfang 40 zu Arthrose kommen, will ich beinahe ungläubig wissen. „Ganz einfach!“, erklärt Noana. „Ich hatte jahrelang keine Wertschätzung für meinen Körper!“ Um einen ungeliebten, falschen Körper brauche man sich nicht zu kümmern. Und so wurde aus „Knieproblemen“ im Lauf der Zeit tatsächlich Arthrose.

Zukunft mit zufriedenem Ich

Demnächst steht noch ein Familienfest an, erfahre ich. Noanas Vater wird 80! Diese Gelegenheit wird sie nutzen, um zum ersten Mal vor ihren Verwandten den neuen Namen auszuprobieren. Der Tag des Fests bringt eine ungeahnte Wendung, wie ich später erfahren werde: Die Mutter nennt Noana zum ersten Mal bei ihrem Namen!

Es ist eine spannende Zeit, die nicht nur vor Noana liegt. So nah die Transition eines Menschen zu seinem eigentlichen Geschlecht mitzuerleben, ist etwas Besonderes. Sollte ich jetzt nochmal die Familie von vorhin auf der Straße treffen, so werde ich die Situation noch aufklären und sagen, dass ich mich für ein Interview mit Noana und nicht mit Chris getroffen habe.