Eine Krankenschwester bereitet sich auf das Gespräch mit Christian Lindner vor … (Symbolfoto)

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Meinung einer Pflegefachkraft zum Interview mit FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner

In unserer Juni-Ausgabe erschien ein Interview mit dem FDP-Vorsitzenden und -Spitzenkandidaten Christian Lindner. Dazu erreichte uns eine E-Mail der Pflegefachkraft Mareike Machate, die wir mit ihrer freundlichen Einwilligung hier veröffentlichen und zur Diskussion stellen.

„Sozial“-politik und FDP? Herr Lindner, dafür sind Sie und Ihre Partei – vermutlich durch die Erfahrungen aus Ihrer Lebenswelt – viel zu unerfahren/ahnungslos, was es bedeutet, in der Mittelschicht oder gar darunter zu leben. „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr …“.

Nächstenliebe wird der Markt nie von alleine regeln, denn diese orientiert sich nicht an Profit.

Darum finde ich die Frage zu Ihren Zusatzverdiensten und der von den Wohlfahrtsverbänden geforderten Aufstockung des Regelsatzes nicht „zugespitzt“, sondern berechtigt sachlich.

Nein, ich bin nicht neidisch auf Ihre Einnahmen. Zufälligerweise bin ich gewissermaßen einer Ihrer angesprochen Fachleute, die wissen, welche Bedürfnisse bestehen.

Ich habe mit 17 die Ausbildung zur Krankenschwester begonnen und noch heute ist es mein Traumberuf. Aus eigenem Einsatz, Schritt für Schritt, habe ich die Weiterbildung zur Praxisanleiterin absolviert, mein Fachabitur nachgeholt und den Bachelor in Pflegepädagogik erfolgreich abgeschlossen.

Ich kann zwar nicht für Polizistinnen und Polizisten, Bedienstete bei der Stadtreinigung, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer und andere Berufsgruppen mit Gehältern aus öffentlichen Mitteln sprechen, aber das Gehalt von Menschen, die in der Alten- und Krankenpflege arbeiten, kenne ich.

Herr Lindner, diese Arbeit ist – wie nun endlich scheinbar alle wissen – systemrelevant!!! Trotzdem wird diese nicht entsprechend der Verantwortung, Arbeitsbelastung und körperlichen Spätfolgen durch die kaputtgesparten Arbeitsbedingungen vergütet. Skandalös, ungerecht.

Wir müssen auch hier über die Qualität der Arbeitsverhältnisse nachdenken, denn es sind nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch die Klientinnen und Klienten (kranke Kinder und Erwachsene, Alte, Neugeborene, Sterbende, Menschen mit Behinderung …), welche unter den industrialisierten Arbeitsbedingungen leiden müssen. Ich empfehle Ihnen „I’m a Nurse“ von Franziska Böhler und Jarka Kubsova, erschienen im Heyne Verlag, zu lesen, um uns Pflegende besser zu verstehen.

Habe ich diesen Beruf gewählt, um finanziell abgesichert zu sein? Nein, es war mir mehr eine Berufung.

Ist es also meine eigene Dummheit, mit etwas für mich Sinnvollem meine Arbeitszeit zu verbringen, statt in einem Beruf mit mehr Gehalt?

Habe ich nicht all meine Aufstiegschancen, alle Qualifikationsangebote genutzt, die mir mein geliebtes Arbeitsfeld ermöglicht?

Gut, ich könnte noch auf Master studieren, aber wozu? Ich möchte nicht eine Schule für Pflegefachkräfte leiten oder in die Wissenschaft gehen. Ich will am Krankenbett mit den Auszubildenden daran arbeiten, Menschen gesund zu erhalten, damit sie ihre Gesundheit wiedererlangen, lernen, mit ihrer Krankheit zu leben, oder sie im Sterben nicht allein zu lassen.

Am Krankenbett hat der Bachelorabschluss aber noch nicht seinen Platz und die entsprechende Bezahlung gefunden.

Die Arbeit mit Menschen wirkt auf mich wie ein Magnet, von dem ich mich sehr gerne festhalten lasse.

Habe ich selbstbestimmt gewählt, kein Gehalt wie Sie zu erhalten, weil ich im Krankenhaus bleibe, statt in die Politik zu wechseln?

Ja – und dabei sollte es in der Gesundheitspolitik mehr Menschen aus der Pflege geben. Fachleute, die sich damit auskennen, was Schreibtischentscheidungen für Menschen in der realen Welt bedeuten. Aber Herr Lindner, ich will im Krankenhaus bleiben und wünsche mir, trotzdem gerecht bezahlt zu werden und in der Rente gut leben können. Alle sozialen Berufe und wirklich systemrelevanten Berufe wie Verkäuferinnen und Verkäufer, Angestellte bei der Stadtreinigung und so weiter dürfen nicht zu Verelendung führen.

Aber vielleicht kann der Ideenwettbewerb endlich dazu führen, dass trotz der Förderung von Menschen nicht die Überzeugung weiterkeimt „jeder kann pflegen“. Herr Lindner, als Pflegepädagogin kann ich Ihnen sagen, auch mit noch so viel Förderung ist nicht jede und jeder den vielseitigen Arbeitsaufgaben, der Verantwortung und den emotionalen und körperlichen Herausforderungen der Pflege gewachsen.

Leider gehöre ich mit meinen Lebensentscheidungen nicht zu Ihrer Leidenschaft, denn ich gehe zwar meinen Weg, aber dieser führt zu anderen Menschen statt nach oben. Sie ändern nur das Leben derer, die aufsteigen wollen. Ich Pflege jeden Menschen gleich, ob er obdachlos oder privatversichert ist. Was Corona angeht, möchte ich behaupten, dass sich „Reichere“ viel häufiger im Urlaub anstecken als in den überfüllten Öffentlichen.

Wenn wir schon so dumm sind, keinen besser bezahlten Beruf mit mehr Aufstiegschancen zu wollen, so sind wir doch wenigstens global verantwortlich.  Alleinverdienende Pflegefachkräften verzichten meist auf den Bau neuer Einfamilienhäuser, da wir eh nicht genug Geld und Freizeit zum Neubauen haben.

Wenn Sie und andere beruflich Aufstiegsorientierte dann in der teuren Penthousewohnung wohnen, stören die aufstiegsuninteressierten Geringerverdienenden in den unteren Etagen auch kaum. Wir sind eh meist auf Arbeit im Schichtdienst, mit Überstunden und in der Freizeit am Schlafnachholen. Mit uns als Nachbarn gelingt vermutlich den Menschen mit hoher Quadratmetermiete dann die dringend notwendige gesellschaftspolitische Pluralität leichter. Denn ohne Migration hätte ich in der Pflege und auch bei den Ärztinnen und Ärzten kaum noch Arbeitskolleginnen und -kollegen.

Keine Sorge, ich will Ihnen und „denen da oben“ nicht etwas wegnehmen. Aber ich und sicher auch meine Kolleginnen und Kollegen in den sozialen und wirklich systemrelevanten Berufen verlangen und verdienen Wertschätzung – auch sichtbar im Gehalt und in der finanzierten Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen. Dabei dürfen nicht parteipolitische Interessen eine Rolle spielen, sondern Nächstenliebe und sozialpolitische Maßnahmen statt Erwägungen.

Ich bin da ganz bei Ihnen und klage, egal welche Partei, an: Was vor der Wahl versprochen wurde, nicht zu liefern, ist respektlos!

 

Mit freundlichen Grüßen

Mareike Machate