Foto: Anne Brockmann

Sex für alle!

Jessica Philipps ist Sexualbegleiterin. Sie ermöglicht Menschen mit Behinderung sexuelle Erfahrungen, die sie ohne ihre Unterstützung nicht machen könnten. Ein hoher Bedarf steht dabei vielen falschen Vorstellungen gegenüber.

Von Anne Brockmann

Jessica und Martin (Name geändert) liegen nackt beieinander. Sie haben einfach Zeit für den anderen. Sie schauen sich an, spüren die Wärme ihrer Körper, ertasten die Haut, halten sich minutenlang fest, streicheln und verknoten sich. Beide sind ganz da. Die Szene ist getragen von Zärtlichkeit. Viele Berührungen später erlebt Martin einen sexuellen Höhepunkt.

Die Überraschung: Jessica und Martin sind kein Paar. Martin bezahlt für die Zeit mit Jessica. Jessica ist Sexualbegleiterin. Seit mehr als zehn Jahren übt sie den Beruf inzwischen aus. Dabei ist sie nach wie vor mit einem hohen Bedarf und falschen Vorstellungen konfrontiert.

Sexualbegleiter wie Jessica Philipps ermöglichen Menschen sexuelle Erfahrungen, die sie wegen einer Behinderung nicht selbst machen können. „Mangelnde Intimsphäre in Wohnheimen; überforderte Eltern, die nicht wissen, wie sie mit den erblühenden sexuellen Bedürfnissen ihrer pubertierenden Kinder umgehen sollen; verhaltensauffällige Senioren, die in Pflegeeinrichtungen das Personal bedrängen – genau hier beginnt die Arbeit einer Sexualbegleiterin. Bei der Frage: Wie kann man Sexualität und Behinderung am besten miteinander verbinden?“ So beschreibt Jessica ihren Beruf.

Wichtig ist ihr die Abgrenzung zur Prostitution, denn bei der Sexualbegleitung steht die emotionale Zuwendung im Vordergrund. Sie sagt sogar, sie gehe eine Ersatzpartnerschaft mit ihren Klienten ein, solange sie Zeit mit ihnen verbringt. Darin bringe sie all ihre Achtsamkeit, Empathie und Liebe mit ein. Die Zeit ist es auch, die der Klient am Ende vergütet, nicht eine bestimmte Dienstleistung. Denn was während der 90 Minuten passiert, die ein Treffen mit Jessica in der Regel dauert, ist im Vorfeld nicht grundsätzlich festgelegt. Es geschieht aus dem Moment heraus. Küsse, Geschlechts- und Oralverkehr schließt Jessica allerdings aus. Doch hier zieht jeder Sexualbegleiter seine Grenzen etwas anders.

Traumatische Erfahrungen

Im Idealfall mündet die Zweisamkeit mit Jessica darin, dass die Klienten nach etwa sechs Begegnungen in der Lage sind, sich selbst sexuelle Befriedigung zu verschaffen oder aber eine Idee davon bekommen haben, wie sie Sexualität in einer möglichen Partnerschaft gestalten können. „Bei vielen entsteht erst in der Begegnung mit mir ein Bewusstsein für die verschiedenen Arten von Berührung. Dafür, dass sie dominant, vereinnahmend, achtsam, selbstlos oder sonst wie sein kann. Vieles hier ist ein Ausprobieren und Kennenlernen. Das ist oft erst mal weit weg von Romantik, Lust und Begehren. Es geht darum, den eigenen Körper, die eigene Sexualität zu entdecken und ihr einen Ausdruck zu geben. Da ist oft auch viel Unsicherheit dabei“, führt Jessica aus.

Unter ihren Klienten sind immer wieder Frauen, die im Zusammenhang mit Sexualität missbräuchliche und gewaltsame Erfahrungen gemacht haben. Sie suchen Jessica zum Beispiel für eine Tantra-Massage auf, in die der Intimbereich miteinbezogen ist, um ganz langsam wieder Vertrauen in die Berührungen von anderen Menschen entwickeln zu können. Nicht selten haben aber auch die Männer, die zu ihr kommen, Traumatisches im Zusammenhang mit Sexualität erlebt. „Oft wollten Angehörige den Betroffenen mit einem Besuch im Bordell etwas Gutes tun. Das ging aber völlig daneben. Haben Sie mal versucht, einen Menschen mit schwerst-mehrfach behindertem Körper aus einem Rollstuhl zu bewegen und ihn zu entkleiden? Das braucht Know-how, Zeit, Einfühlungsvermögen und Kommunikation, die manchmal nur non-verbal stattfinden kann. Pflegekräfte machen dafür eine Ausbildung. Und die Vorstellung, dass die Arbeit erst mit einem Orgasmus beendet ist, führt manchmal zu einer schmerzhaften Überreizung des Penis“, fasst Jessica die Vorgeschichten mancher Klienten zusammen.

Von Agrarbiologie zur Sexualbegleitung

Sie selbst hat seit Kindertagen Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Sie ist in der Nähe der Karlshöhe Ludwigsburg aufgewachsen, die Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen betreut. Die Kirche war der Ort, an dem sie den Bewohnern der Karlshöhe am häufigsten begegnete. „Dadurch habe ich nie eine Scheu entwickelt“, sagt sie über ihr Verhältnis zu Menschen mit Behinderungen.

Nach dem Abitur hat Jessica ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung in Stuttgart gemacht. Dort ist sie zum ersten Mal auf Missstände im Umgang mit den sexuellen Bedürfnissen der Betreuten aufmerksam geworden. „Ich habe bemerkt, dass viele sich beim Mittagsschlaf in Bauchlage an der Matratze geschubbert haben oder begonnen haben, zu masturbieren, sobald die Windel kurz weg war. Die Kollegen haben darüber gelacht und dafür gesorgt, dass die Windel ganz schnell wieder drankommt. Meine Versuche, das Thema anzusprechen, wurden abgewürgt“, erinnert sich Jessica. Ähnliche Erfahrungen machte sie, als sie während des Studiums in der Pflege jobbte. Jessica studierte einst Agrarbiologie – bis zum Vordiplom. Außerdem arbeitete sie in der Gastronomie und der Krankenpflege.

Das Seelenkind

Zur Sexualbegleitung kam sie über die Tantra-Massage. „Ursprünglich hatte sich eine Freundin für die Ausbildung angemeldet. Sie konnte wegen eines gebrochenen Fußes aber nicht teilnehmen. Ich war ihr Ersatz, und damit fing alles an“, erzählt Jessica. Schnell erlernte sie weitere Massagetechniken, die sie auch heute alle noch anbietet. Irgendwann hat sie ihr Angebot um die Sexualbegleitung erweitert.

Eine anerkannte Ausbildung für den Beruf gibt es bisher nicht. Die älteste und somit wohl erfahrenste Organisation in der Ausbildung von Sexualbegleitern ist das „Institut zur Selbstbestimmung Behinderter“ – kurz ISBB. Jessica hat den Beruf auf anderem Weg erlernt. Eine Begegnung von 90 Minuten kostet bei ihr 135 Euro. In seltenen, gut begründeten Fällen übernimmt die Krankenkasse diese Kosten. Meist zahlen die Klienten die Dienstleistung aber aus eigener Tasche.

Jessica schlüpft für ihre Arbeit in ein Berufs-Ich – das Seelenkind, wonach auch ihre Praxis in Leinfelden-Echterdingen benannt ist. „Den Namen hat mir eine Klientin gegeben. Sie wollte damit die Unvoreingenommenheit zum Ausdruck bringen, mit der ich Menschen begegne.“ Nach Feierabend kehrt Jessica zurück nach Hause, wo eine Familie auf sie wartet. Ihren Mann kannte sie bereits, bevor sie Sexualbegleiterin wurde. Er hat mit ihrer Arbeit keine Schwierigkeiten. Das Ritual, mit dem sie ihre Arbeit hinter sich lässt, bevor sie nach Hause kommt, ist das Duschen. „Ich bin bei der Arbeit ganz ich und wirklich da, aber ein geheimer Winkel meiner Seele gehört eben doch nur mir und meiner Familie“, sagt Jessica.

Homepage Seelenkind-Massagen.de


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