Foto: gemeinfrei; Wikimedia

Sophies weiter Weg zur Widerstandsikone

Heute wäre sie hundert Jahre alt geworden: Sophie Scholl. Häufig wird sie als studentische Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus idealisiert, doch zugleich auch darauf reduziert. Wie wurde aus dem kleinen Kind Sophia Magdalena die uns bekannte Sophie Scholl der „Weißen Rose“? Auf Spurensuche mit dem Theologen und Historiker Dr. Robert M. Zoske.

Von Dennis Stephan

In mehreren Briefen (archiviert im Institut für Zeitgeschichte München-Berlin) richtete sich Robert Scholl aus der Sippenhaft an seine Familie. Tage und Wochen nach der Hinrichtung seiner beiden Kinder Sophie und Hans, die am 22. Februar 1943 als Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose vom damaligen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am selben Tage hingerichtet wurden. Ihr Vater, späterer Ulmer Oberbürgermeister, rang in den Briefen mit seinen Gefühlen. Er hob die gute Erziehung durch seine Frau hervor, beklagte seine ungenügend gezeigte Zuneigung und bedauerte, nur wenig an Sophies und Hans’ Innenleben teilgenommen zu haben. Und fühlte sich zu diesem Zeitpunkt mitschuldig an ihrem Tod.

Aber wie kam es überhaupt dazu? Allein Sophies freien und kritischen Geistes wegen lohnt ein Blick auf ihre Kindheit. Für sie, ihre Geschwister und die meisten anderen Kinder verwob sich, seit Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, die Erziehung des oft noch religiösen Elternhauses mit der des NS-Regimes: eine politische, propagandistische Erziehung der Nation. Hierfür dienten insbesondere die Hitlerjugend (HJ) und der Bund Deutscher Mädel (BDM), die auch die Geschwister Scholl begeisterten. Deren Eltern, die pietistische Mutter Magdalene und der liberale, kulturkritische Vater Robert, sahen diese Begeisterung ungern: „Es waren die kompakten Kolonnen der Jugend mit ihren wehenden Fahnen, den vorwärtsgerichteten Augen und dem Trommelschlag und Gesang. War das nicht etwas Überwältigendes, diese Gemeinschaft? So war es kein Wunder, daß wir alle, Hans und Sophie und wir anderen, uns in die Hitlerjugend einreihten“, schrieb Sophies Schwester Inge Aicher-Scholl in ihrem Buch „Die Weiße Rose“ (1952). „Wir waren mit Leib und Seele dabei, und wir konnten es nicht verstehen, daß unser Vater nicht glücklich und stolz ja dazu sagte.“

Drei Einflüsse formten Sophies späte kritische Denkhaltung

Umso interessanter also ist der trilaterale Einfluss aus indoktrinierendem NS-Staat, gläubiger Mutter und kritischem Vater. Dass die evangelisch geprägten Geschwister ihr Gottvertrauen von Mutterseite erfuhren, ist kaum zu bezweifeln. Zudem war Sophie bis zu ihrem Tod im Leben und ihrem Glauben ernsthaft protestantisch. Dass Bruder Hans und Sophie mit Blick auf die Weiße Rose ihre aufständischen Wurzeln allein von Robert Scholl in die Wiege gelegt bekamen, ist da schon eher fragwürdig. Der politische Einfluss des Vaters war in den jungen Jahren Sophies beiläufig: „Sophies Wort ‚Man hat uns eben politisch erzogen‘ bezieht sich nur zu einem geringen Teil auf den Einfluss des Vaters. Warum sollte sie für ihren Vater das unpersönliche ‚man‘ verwenden? Das passt doch viel besser zu jener Bewegung, der sie sich seit 1934 völlig verschrieben hatte: den Nazis und ihrer Ideologie“, sagt Dr. Robert M. Zoske. Was aus dem heutigen Bild der Widerstandskämpferin kaum hervorgeht, ist ihre jahrelange Treue zur HJ und BDM. In seiner kürzlich erschienenen Biografie „Sophie Scholl: Es reut mich nichts“ (2020) betont Zoske, dass in Sophies Briefen „ein ausgeprägtes, handlungsorientiertes, politisches Problembewusstsein erst ab Sommer 1942 zu erkennen“ ist.

So wuchs die bis heute nachwirkende kritische Haltung in Sophie erst heran – mit den Einflüssen der Eltern und den nationalsozialistischen Jugendverbänden. „Klassenkameradinnen schildern die 16-Jährige 1937 als 150-prozentige Anhängerin des Nazi-Regimes, die den Faschisten mit Überzeugung, Bedingungslosigkeit und Fanatismus diente“, erläutert der Theologe. „Das hatte sie nicht von den Eltern, sondern war das Ergebnis der politischen Erziehung in unzähligen Naziveranstaltungen, die sie besuchte und verantwortlich leitete. Aber sie lernte im Kreis ihrer Familie Denken und Gottvertrauen, und das gewann im Laufe des Krieges allmählich die Überhand. Der fromm-fröhliche Einfluss Magdalene Scholls war dabei ungleich größer als der von Robert. Mit ihrem herrischen Vater hatte sie häufig Konflikte. Sophie schreibt, dass sie von ihm oft angeschrien werde, zum Beispiel, wenn sie pfeife, das geschehe aber nicht nur bei dieser Gelegenheit, sondern ‚überhaupt meistens‘.“

Sie bevorzugte eine Beziehung auf geistiger Ebene

Solche Auseinandersetzungen mit dem hier herrisch erscheinenden Vater könnten Sophie jedenfalls in ihrer standhaften Entwicklung bestärkt haben. In ihren jungen Jahren haderte sie eher mit typischen Themen und Problemen von Heranwachsenden, ob Schule, die ersten Liebesgefühle oder die erste Arbeit, ob als Hitlermädchen, Konfirmandin oder Briefpartnerin. Bis die junge Frau ihr richtungsweisendes Studium in München aufnahm, vergingen einige Jahre des Zurechtfindens in der Welt. Dabei fühlte sich Sophie anders und wie in ihrem Dienst als Kindergärtnerin häufig ausgeschlossen, hatte nur wenige gleiche Interessen wie die anderen in ihrem Alter – sie sah sich vielmehr in ihrem Glauben, in der Kunst und Natur aufgehoben und wirkte in der Hinsicht reifer als ihre Altersgenossen. Hingegen ging Sophie mit ihrer Sexualität unentschlossen und keusch um: In ihrer langjährigen, ambivalenten Beziehung zu Fritz Hartnagel, der die meiste Zeit an der Front war, wurde überwiegend per Brief kommuniziert. „Sophie fand, auf der asexuellen, platonischen Ebene könne ihre Beziehung zu Fritz weitergehen“, so Zoske. Einschneidende Ereignisse wie Fritz’ Affäre oder die gemeinsame sexuelle Erfahrung änderten daran kaum etwas.

Dennoch scheint der Einfluss des Vaters, wenngleich von Sophies Schwester Inge nach dem Zweiten Weltkrieg mutmaßlich geschönt formuliert, früh politisch gewesen zu sein: Die Nationalsozialisten, die dem Land seinerzeit „Größe, Glück und Wohlstand“ zurückbringen wollten, seien für Robert Scholl schon früh Wölfe und Bärentreiber gewesen: „Manchmal verglich er Hitler mit dem Rattenfänger von Hameln, der die Kinder mit seiner Flöte ins Verderben gelockt hatte“, schrieb Inge. Laut Zoske übernahmen Hans wie Sophie beispielsweise die Kritik an Massenbewegungen, besonders auch demokratischer, von ihrem Vater, die Robert Scholl noch 1960 als „völlige Illusion“ ablehnte. „Sie habe Hitler an die Macht gebracht. Scholl war Anhänger einer konstitutionellen Monarchie, eines Ständestaats“, sagt der Historiker.

Doch nicht nur deshalb erscheint die Person Robert Scholl aus heutiger Sicht zeitweise widersprüchlich: „Seine lebenslange Freundschaft mit dem höchsten und übelsten Nazi des Kreises Öhringen, dem Eugeniker, Antisemiten und NSDAP-Kreisleiter Dr. Ferdinand Dietrich, und sein Einsatz für ihn nach dem Krieg rücken Robert Scholl ins Zwielicht“, sagt der Historiker. „Eine auf Fakten basierende, das heißt auf Dokumente gestützte Erklärung für dieses Verhalten, liegt bisher nicht vor. Menschen leben in Widersprüchen. Wie bei Sophie Scholl ist es wichtig, diese Ambivalenzen klar zu benennen und die realen Personen nicht in idealisierten Verklärungsnebeln zu verstecken.“

Sophie war lange keine Gegnerin des NS-Staats

Robert Scholl gehört also zur Minderheit unter dem NS-Regime, die ihm nur widerwillig und aus Angst zustimmten. Ganz im Gegensatz zu seinen aufständischen Kindern Hans und Sophie, insbesondere ab deren Münchner Zeit. Doch auch bei Sophie vollzog sich der Wandel nur langsam. „Aus der historischen Distanz wird Sophie Scholl fast ausschließlich als Studentin gesehen. […] Doch das überdeckt, dass Sophie zuerst und länger anderes war: Kindergärtnerin, Erzieherin“, erläutert Zoske in seiner Biografie. „Tatsächlich hatte Sophie lange geträumt. Davon, Zukunft positiv mitgestalten zu können. Für ihre Vision eines besseren Deutschlands hatte sie als überzeugte Nationalsozialistin Jahre ihres Lebens eingesetzt. […] Langsam trübte sich ihr heller Zukunftstraum ein, dunkelte allmählich zu einem düsteren Albtraum, aus dem sie nur mit Mühe herausfand. Im Laufe des Jahres 1942 wachte sie dann wirklich auf. Hellwach wurde ihr klar, dass sie etwas gegen diese Gewaltherrscher tun musste, die mit dem Krieg Millionen die Zukunft stahlen.“

So kam die Münchner Zeit und mit ihr die Studentin Sophie Scholl, die weniger eine emsige Studentin als offen für Neues war, die mehrfach von aus ihrer Sicht unsinnigen Todesfällen an der Front erfuhr, rebellische Gedanken entwickelte und die mit der Weißen Rose Flugblätter gegen das NS-Regime verteilte. Bis zur allseits bekannten Flugblattaktion in der Universität, die zur Verhaftung am 18. Februar 1943 mit den bekannten Folgen führten.

Was wäre aus Sophie Scholl geworden, wenn sie die NS-Zeit überlebt hätte? Möglicherweise eine ebenfalls kritische, junge Frau – burschikos, gläubig, kulturell. Aber eigentlich verbietet sich diese Frage. Die grauenvollen Umstände der damaligen Zeit formten aus dem Mädchen unter stetiger Mithilfe ihres nahen Umfelds und ihrer Familie die resiliente Widerstandskämpferin, die wir heute in ikonischer Erinnerung behalten. Aus gutem Grund noch hundert Jahre später und hoffentlich viele weitere.

Buchcover

Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Propyläen Verlag, Berlin 2020, 448 Seiten, 24 €, ISBN 978-3-54-910018-9

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