Kurt Schrimm war von 2000 bis zu seiner Pensionierung 2015 Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg (Foto: Zentrale Stelle Ludwigsburg)
Dieses Interview erschien erstmals in der Juli-Ausgabe 2015.
Späte Gerechtigkeit
In den vergangenen Jahren konnten wieder einige NS-Täter angeklagt werden. Dies ist vor allem der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg zu verdanken – und Kurt Schrimm, der die Zentrale Stelle seit 15 Jahren leitet und sich bald in den Ruhestand verabschieden wird. Nico Nissen sprach mit ihm über Kriegsverbrecher, Gerechtigkeit, seine Arbeit und sein Leben.
Wie viele Kriegsverbrecher konnten wegen Ihrer Arbeit verurteilt werden?
Zur Zentralen Stelle gibt es keine Statistiken. Als Staatsanwalt in Stuttgart habe ich sieben Personen angeklagt, von denen vier verurteilt wurden.
Was ist der typische Kriegsverbrecher für ein Mensch?
Es gibt den typischen Kriegsverbrecher mit Sicherheit nicht, mit Ausnahme der damals Verantwortlichen. Die Haupttäter wie Hitler, Himmler, Göring, Heydrich, die hatten natürlich ein politisches Motiv: Das war, die Macht zu erhalten. Aber beim Mörder am unteren Ende der Befehlskette, da gibt es den typischen NS-Täter nicht. Ich habe Leute kennengelernt wie beispielsweise Schwammberger, einen Überzeugungstäter, der nicht nur Befehle ausgeführt hat, sondern der Häftlinge und Ghetto-Insassen aus eigenem Antrieb ermordete und der bis zu seinem Tode überzeugt war, dass er das Richtige getan hat. Dann gibt es Leute, die waren reine Befehlsempfänger. Die wären nie zum Mörder geworden, wenn man ihnen nicht den Befehl dazu erteilt hätte. Leute, die bis zu ihrem Lebensende gesagt haben: „Ich kann doch nichts dafür, ich war doch Soldat!“ Dann gibt es Leute, die sich keine Gedanken darüber gemacht haben; dann gibt es Leute, die tatsächlich aus Angst gehandelt haben, die sagten: „Wenn ich nicht geschossen hätte, wäre ich selbst erschossen worden.“ Und es gibt noch viele Zwischentypen. Lange Rede, kurzer Sinn: Den typischen NS-Täter gibt es nicht.
Es gibt viele, die meinen, man solle die inzwischen greisen Täter nicht mehr „vor Gericht zerren“. Was entgegnen Sie diesen Leuten?
Da gibt es zwei Entgegnungen. Zunächst muss ich ihnen als Jurist sagen: „Das entscheiden nicht wir, sondern der Gesetzgeber.“ Der Gesetzgeber hat entschieden, Mord verjährt nicht, und lässt damit Staatsanwalt und Richter keine Wahl. Er sagt, wenn ein Anfangsverdacht eines Mordes vorliegt, dann musst Du verfolgen. Andererseits kann man trefflich sowohl in die eine als auch die andere Richtung argumentieren: Man kann sagen, das war ein einzigartiges und ein Jahrtausendverbrechen, und weder die Machthaber noch die Täter nahmen irgendwie Rücksicht auf das Alter ihrer Opfer. Wenn sie die Transportlisten der Transporte in die Vernichtungslager sehen, finden sie darin sechs Monate alte Säuglinge und 95-jährige Greise und Greisinnen. Den damaligen Tätern war das Alter völlig gleichgültig. Und dann gibt es noch die Wiedergutmachungsfunktion gegenüber den heute noch lebenden Überlebenden und den Angehörigen, denen man meines Erachtens zeigen muss, dass wir nicht einfach über die Sache hinweggehen, sondern dass wir nach wie vor bereit sind, diese Taten zu verfolgen. Es gibt aber genauso viele Argumente dafür, alte, kranke Leute, die man sowieso nicht mehr einsperren kann, zu verschonen, die sich durchaus hören lassen. Das muss eigentlich jeder für sich entscheiden, ob er das richtig findet oder nicht. Das Gesetz lässt uns aber keine andere Möglichkeit.
Was empfinden Sie persönlich nach einer Verurteilung?
Wenn sie fünf Jahre an einem Fall arbeiten, und die Arbeit ist letztendlich von Erfolg gekrönt, das heißt in dem Fall, dem Gesetz ist genüge geschehen, (Pause) Befriedigung ist falsch, aber wenn man sein berufliches Ziel erreicht, das ist natürlich wesentlich angenehmer, als wenn man fünf Jahre umsonst arbeitet.
Was empfinden Sie, wenn ein Kollege, wie vor einigen Jahren ein Oberstaatsanwalt in Stuttgart, noch nicht einmal eine Anklage zustande bringt, obwohl die Verdächtigen in einem anderen Land bereits rechtskräftig verurteilt wurden?
Ich meine, dass der Kollege, den Sie jetzt meinen, dem Gesetz entsprechend gehandelt hat. In Italien gelten andere Gesetze und andere Voraussetzungen für ein Urteil. Der Kollege hat sehr sorgfältig ermittelt und kam am Ende zu dem Ergebnis, dass es nach deutschem Recht nicht ausreicht. Ich teile diese Auffassung.
Ist in den Fällen, an denen Sie gerade arbeiten, mit Anklagen zu rechnen?
Das ist sehr schwer zu beurteilen. Die Leute sind ungefähr 90 Jahre alt – da kann von einem Tag auf den anderen eine dramatische Veränderung eintreten. Nach dem augenblicklichen Stand, wenn die Gesundheit der Leute sich nicht drastisch verschlechtert, könnte es schon noch zu einigen Anklagen kommen.
Was ist das derzeit größte juristische Problem bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen?
Das ist ganz klar nach über 70 Jahren der Nachweis. Es gibt so gut wie keine lebenden Zeugen mehr, und wir leben heute in einem Rechtsstaat, in dem jedem, auch einem NS-Täter, die Tat mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit nachgewiesen werden muss. Juristisch gesehen gibt es auch noch die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag. Totschlag verjährt, und die Differenz zwischen Mord und Totschlag liegt manchmal im subjektiven Bereich. Ich muss heute nach 70 Jahren dem Täter nachweisen, welches Motiv er bei der Tötung hatte. Das erweist sich oftmals als nicht mehr machbar.
Die Bundesrepublik liefert grundsätzlich keine deutschen Staatsbürger an andere Staaten aus. Ist das aus Ihrer Sicht ein Fehler?
Nein. Diese Vorschrift gibt es in vielen anderen Ländern auch. Ich meine, ein Staatsbürger sollte sich schon auf einen gewissen Schutz durch den eigenen Staat verlassen können.
Gilt das auch für EU-Staaten, die rechtsstaatliche Prinzipien einhalten?
Da gibt es, ohne dass ich die Einzelheiten kenne, zwischenzeitlich Lockerungen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann innerhalb der EU ein Täter ausgeliefert werden.
Sie gehen nun bald in den Ruhestand. Hat Ihre Arbeit Sie verändert?
Nein, das glaube ich nicht. Ich war vom ersten Tag meiner Tätigkeit an, als ich noch fern von diesen NS-Verfahren und mit einer völlig anderen Materie befasst war, gerne Staatsanwalt und habe meine Tätigkeit immer sehr, sehr gerne ausgeübt. Es ist ein ungeheuer interessanter, kreativer Beruf. Ich glaube nicht, dass sich dadurch, dass ich in den letzten Berufsjahren ausschließlich mit NS-Verfahren befasst war, bei mir irgendetwas geändert hat.
Was werden Sie in Ihrem Ruhestand machen?
Ich werde zunächst mal ein Buch über meine Arbeit schreiben. Ein entsprechender Vertrag liegt schon vor. (Anmerkung: Eine Besprechung des Buches finden Sie hier.) Ich habe einige Hobbys: Ich arbeite gern im Wald und habe ein eigenes Waldgrundstück, ich habe eine Modelleisenbahn, ich reise sehr gerne, und wenn mir gar nichts mehr einfällt, habe ich zwei Enkel. (schmunzelt)
Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Schrimm!
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