Foto: Nico Nissen

Stuttgart-21-Planung: Rechenschieber statt High-End-Software?

Interview mit Richter a. D. Dieter Reicherter über eine fragwürdige Lücke in der Begutachtung von Stuttgart 21

Die Stuttgart-21-kritische Gruppe Ingenieure22 recherchiert seit Jahren zu den Planungsdefiziten von Stuttgart 21, besonders zum Brandschutz und den Evakuierungsplänen. Was sie nun entdeckt hat, klingt unglaublich. Nico Nissen und Amelie Pflugfelder sprachen mit dem ehemaligen Richter am Landgericht Stuttgart, Dieter Reicherter, der die Gruppe ehrenamtlich juristisch berät und als erster auf ein möglicherweise erhebliches Manko in der Begutachtung des Projektes stieß.

Du suchst schon seit einigen Jahren Planungsdefizite und Fehler bei Stuttgart 21. Ist dieser Fund der erste?

Nein, aber ich möchte mich selbst nicht in Vordergrund stellen. Die Ingenieure 22 haben Fachwissen und graben in Unterlagen, Veröffentlichungen et cetera. Ich bin reingerutscht, weil sie einen juristischen Beistand brauchten. Ich habe mehrfach Prozesse für Akteneinsicht begleitet und war mehr im Hintergrund tätig. In diesem Kontext bin ich auf die Problematik gestoßen. Die Quelle waren letztendlich immer die Ingenieure.

Was habt Ihr entdeckt?

Es war immer die Rede von Simulationen, nie was anderem, auch im Vortrag der Projektgesellschaft DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH. Das war das eine. Die Projekt-GmbH weigerte sich aber, Einsicht in die Simulationen zu geben, und behauptete plötzlich, es gebe gar keine, sondern nur einen Bericht über Simulationen.

Gleichzeitig stellten wir beim Eisenbahn-Bundesamt (EBA) einen Antrag auf Grundlage der Planfeststellungsbeschlüsse zum Brandschutz in den Tunneln. Aufgrund der Ausarbeitung der Ingenieure wurde festgestellt, dass dieser nicht ausreicht. Ich war am Antrag beteiligt und an folgenden Schriftsätzen. Dabei habe ich einen Schriftsatz des Bahnanwalts Dr. Schütz erhalten, mit dem er Stellung zu unserem Antrag genommen hat. In diesem Schriftsatz von über 40 Seiten bin ich stutzig geworden an zwei Stellen: Es gibt nur Simulationen für Kaltsituationen, aber nicht für den Brandfall. Und der zweite Punkt, der uns völlig neu war, ist, dass in den Simulationen der Kaltsituation Menschen mit eingeschränkter Mobilität überhaupt nicht berücksichtigt sind. Aber das ist ein wichtiger Gesichtspunkt für die Rettung nicht nur im Brandfall, sondern überhaupt. Bis dahin dachten wir, es gäbe Simulationen für Brandfälle, die nur unzureichend sind. Aber es gibt überhaupt keine. Somit hat die Bahn nicht nachgewiesen, dass sie Menschen im Brandfall retten kann. Ich konnte es kaum fassen und habe die einzelnen Stellen noch mehrmals verglichen, aber dann war es völlig klar.

Was fehlt da?

Es fehlt alles. Die Bahn hat ursprünglich behauptet, sie hätte die Evakuierung im Brandfall im Griff und hat sich dabei auf Handrechnungen berufen – ich denke dabei immer an Leute mit Rechenschieber. Später wurde behauptet, es gibt Simulationen. Auch bei den Verhandlungen am Verwaltungsgerichtshof in Mannheim und beim Vortrag der Bahn im Arbeitskreis Brandschutz war immer klar, dass die Simulationen sich auf die Evakuierung im Brandfall beziehen. Im Arbeitskreis sind Regierungspräsidium und Feuerwehr vertreten, die für den Brandschutz verantwortlich sind. Die Bahn hat immer vorgetragen, sie habe Simulationen für den Brandfall, die beweisen, dass die Leute gerettet werden können. Konkret geht es um 1757 Menschen, die maximal im Zug sein können.

Milliarden für den Bau, aber keine Tausender für eine Simulationssoftware

Das ist vorgeschrieben, dass mit diesen Vorgaben geprüft werden muss?

Simulationen sind nicht vorgeschrieben. Vom EBA ist vorgeschrieben, dass der Nachweis geführt werden muss. Auf welche Weise das geschieht, bestimmt das EBA. Es hat nie ausdrücklich Simulationen verlangt. Das Regierungspräsidium (RP) aber schon. Es ist nämlich zuständig für Brand- und Katastrophenschutz und deshalb in die Planung involviert und hat schon 2012 diese Simulationen gefordert.

Mir ist wichtig festzustellen, dass es bei Simulationen darauf ankommt, was man dafür zugrunde legt. Sie bilden oft nicht die Wirklichkeit ab. Früher hieß es sogar, dass ICEs nicht brennen können. Durch den Brand eines ICE bei Montabaur hat man festgestellt, wie lange so eine Evakuierung dauern kann – das war im Freien, hat aber glaube ich 90 Minuten gedauert. Im Tunnel von Stuttgart 21 geht man von nur 15 Minuten aus. Auch Rettungsübungen in Tunneln zeigen, dass Evakuierungen deutlich länger brauchen. Für Kaltereignisse bei Zügen gibt es gar keine Simulationsprogramme. Deshalb hat man das von Schiffen herangezogen, aufgrund der ähnlichen räumlichen Gegebenheiten.

Man gibt also Milliarden für den Bau aus, aber keine Tausender, um eine fehlende Simulationssoftware für Brände in Bahntunneln zu entwickeln?

Das ist gerade, wenn es um Menschenleben geht und angesichts der Bedeutung des Schienenverkehrs, unverständlich.

Ist das Szenario der Simulation denn realistisch?

Nein. Zum Beispiel wurden zwei Minuten dafür angesetzt, bis alle Menschen den Zug verlassen haben. Das ist natürlich völlig unrealistisch, gerade bei einer Evakuierung eines Doppelstockzuges im Tunnel. Das haben die Ingenieure 22 auch herausgearbeitet und es ist Grundlage für unseren Änderungsantrag beim EBA.

Regierungspräsidium vergaß eigene Forderung

Und beim RP hat seit 2012 nie jemand nachgehakt?

Genau. Die Simulation wurde damals vom Regierungsvizepräsidenten in einem Brief gefordert. Im Januar 2014 war die bereits erwähnte Sitzung des Arbeitskreises Brandschutz, während der die Bahn behauptet hat, sie habe eine Simulation, die ihre Rechnung bestätigen würde. Nie hat jemand nachgehakt, komischerweise. Auch nicht nach einem Bericht über die Simulation, der im Juni 2014 erstellt wurde. Weder Feuerwehr noch das RP, und das EBA sowieso nicht.

Sind EBA und RP denn in der Pflicht oder steht ihnen frei zu sagen: „Es liegt in unserer Entscheidungsbefugnis, und wir wollen es nicht genauer wissen!“? Ist ihnen ein Vergehen vorzuwerfen?

„Vergehen“ ist bereits ein juristischer Begriff. Sie sind aber sicher verpflichtet, für den Brand- und Katastrophenschutz zu sorgen, sollte Stuttgart 21 in Betrieb gehen. Spätestens dann müssen sie dafür sorgen, dass er funktioniert. Meine Sorge ist, dass das alles vor sich hergeschoben wird und eine Inbetriebnahme nicht möglich ist. Da müssten sich EBA, RP und Feuerwehr kurzschließen. Es ist klar für eine Behörde, die später zuständig ist und bereits in einem Ausschuss sitzt, vor der Inbetriebnahme auf eine Klärung zu drängen. Nicht erst nach Jahren, wenn es jemals fertig sein sollte.

Gab es nicht eine Anhörung zu den Tunneln und wurde dort nicht über den Brandschutz gesprochen?

Ja, der wurde immer angesprochen, aber auch immer runtergebügelt. Es wurde lediglich behauptet, dass die Bahn mit ihren Handrechnungen den Nachweis einer möglichen Evakuierung erbracht habe. Es wurde aber nie nachgefragt oder überprüft.

Auch nicht bei Verbänden, Vereinen, Nichtregierungsorganisationen und so weiter?

Nein, weil keine Unterlagen vorlagen. Das war der Zweck des Antrags auf Akteneinsicht. Deswegen hat es so lange gebraucht. Die Bahn hat immer behauptet, dass sie die Simulationen hat, aber da ist man nie auf die Idee gekommen, dass es solche nicht gibt.

BER-Nachfolger Stuttgart 21?

Was bedeutet dieses Manko für das Projekt Stuttgart 21?

Im schlimmsten Fall, dass das Projekt nicht in Betrieb genommen werden kann. Wie der BER – dem wurde auch die Inbetriebnahme verweigert, weil der Brandschutz nicht in Ordnung war. Stuttgart 21 wäre aber deutlich schwieriger nachzurüsten. Der Stand der Technik ist eine dritte Tunnelröhre. Es ist fraglich, ob das bei Stuttgart 21 geht und wie viel es kosten würde. Der zweite Punkt sind die ebenfalls problematischen Querschläge. Die Menschen müssen durch diese bis zu 500 Meter entfernte Quertunnel zum anderen Tunnel fliehen – wenn sie es inmitten der tödlichen Gase noch können. Auch Rettungskräfte und Feuerwehr können erst in den Nebentunnel einfahren, wenn darin kein Zugverkehr mehr stattfindet – direkt in den Tunnel mit dem brennenden Zug zu fahren, ist wegen der Hitze- und Rauchentwicklung natürlich nicht möglich. Es kann aber passieren, dass der Rauch durch die Querschläge auch in die Nebenröhre dringt. Die Querschläge sollen wie eine Schleuse funktionieren und die Flüchtenden erst in die Nebenröhre lassen, wenn der Zugang zur Röhre mit dem brennenden Zug und den vielleicht panischen übrigen Flüchtenden verschlossen ist.

Was können Normalbürgerinnen und Normalbürger tun, wenn sie juristisch gegen das Bahnprojekt und seinen Brandschutz vorgehen und Klage erheben wollen?

Da haben wir leider das juristische Problem, dass Normalbürger nicht klageberechtigt sind. Das sind unter Umständen anerkannte Umweltverbände. Deshalb haben wir zusammen mit der Schutzgemeinschaft Filder beim EBA eine Planänderung beantragt, weil sie klageberechtigt ist. Einzelpersonen sind es nur bei direkter Betroffenheit und Lokführer könnten bei Inbetriebnahme klagen.

Verantwortliche lassen sich nicht verantwortlich machen

Können EBA und RP oder Verantwortliche dort zur Rechenschaft gezogen werden?

Wir haben zunächst mal einen Antrag auf Änderung der Planfeststellung gestellt. Das wäre die nächste juristische Konsequenz. Darüber muss das EBA erst mal entscheiden. Wenn es ablehnt, klagen wir. Das ist schon klar. Gegen das RP gibt es keine juristischen Möglichkeiten und es hat auch selbst keine gegen das EBA oder die Bahn.

Wir bemühen uns seit Jahren um ein Gespräch, unter anderem beim noch amtierenden Innenminister Strobl als oberstem Brand- und Katastrophenschützer. Er hat die Bitte schlichtweg verweigert. Es kam lediglich eine Antwort des Polizeipräsidenten, dass er beauftragt sei zu erklären, dass alles in Ordnung sei. Also keinerlei Bereitschaft zu Gesprächen. Wir haben es auch bei RP und Branddirektion versucht, und auch da bis jetzt keine Zusagen.

Ist überhaupt irgendwer verantwortlich?

Das EBA als Genehmigungsbehörde. Bis Stuttgart 21 irgendwann in Betrieb geht, sind die wahrscheinlich im Ruhestand.

Bei Brandschutzsimulationen und sonst auch immer mal wieder werden Interessen von Menschen mit körperlichen Einschränkungen kaum berücksichtigt. Ist das ein allgemeines Problem von Stuttgart 21?

Bei Stuttgart 21 ist das eigentlich bei der gesamten Planung und dem Bau, auch ohne Unfall oder ähnliches. Es ist erheblich erschwert, zu Bahnsteigen zu kommen. In Unglücksfall ist dies noch schwieriger. Da möchte ich an die sogenannte Schlichtung von Heiner Geißler erinnern, wo man einfach gesagt hat, da könne man nichts machen, da müssten Mitmenschen einspringen und die Behinderten retten. Auch die – nicht durchgeführte – Simulation zeigt, dass Behinderte überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Die haben keine Chance, rauszukommen.

Behinderte Menschen sind bei Evakuierungen oft auf die Hilfe anderer angewiesen, die sogenannte Fremdrettung. Professionell machen dies Feuerwehr und Rettungskräfte. In den Tunneln von Stuttgart 21 ist es aber aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht möglich, innerhalb der ersten 15 Minuten zum verunglückten Zug vorzudringen. Die Fahrzeuge von Feuerwehr und Rettungskräften müssen warten, bis der letzte Zug aus dem Tunnel ist, und dann noch mehrere Kilometer durch den Tunnel fahren. Fremdrettung durch professionelle Retter kann es also überhaupt nicht geben. Behinderte Menschen, die sich nicht selbst retten können, sind daher auf Mitmenschen angewiesen. Meiner persönlichen Meinung nach ist schon das eine Katastrophe in der heutigen Zeit, dass man sich um Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen gar nicht kümmert und ihre Bedürfnisse überhaupt nicht ernst nimmt.

Körperbehinderte aus Kalkül nicht bei Evakuierungssimulationen berücksichtigt?

Kann es auch Kalkül sein, Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen bei Simulationen und so weiter außer Acht zu lassen, weil man weiß, dass das Ergebnis nicht gut ausfallen würde?

Genau so sehe ich es. Und zwar nicht nur bei Simulationen, sondern überhaupt bei derartigen Bauten. Eine behindertengerechte Ausführung ist unmöglich und das Projekt wäre gestorben, wenn man diesen Maßstab anlegen würde.

Können all diese Probleme von Stuttgart 21 nicht die Inbetriebnahme ausschließen?

Das könnte sein. Ich vermute es wegen des Brandschutzes, halte aber auch andere Gründe für möglich. Es richtet sich nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz, das festlegt, wie ein Bahnbetrieb ablaufen muss. Wenn dies nicht erfüllt werden kann, kann eine Inbetriebnahme nicht genehmigt werden. Dazu muss man aber sagen, dass das EBA keine unabhängige Behörde ist, sondern dem Verkehrsminister Scheuer unterstellt, und seinem Staatssekretär Steffen Bilger, der vor wenigen Tagen noch einen Tunnel für Stuttgart 21 vorgeschlagen hat, der dieselben Probleme verursacht. Außerdem hat das EBA keine eigenen Sachverständigen, sondern ist auf externe Kräfte angewiesen. Die müssen Aufträge bekommen und sind daher nicht unbedingt kritisch. Das könnte dazu führen, dass eine Betriebserlaubnis erteilt wird, obwohl klar ist, dass das nicht funktionieren kann. Und dann kann der Verkehrsminister noch Ausnahmegenehmigungen erteilen.

Kann man gegen Ministerbeschlüsse juristisch vorgehen?

Gegen die Beschlüsse direkt nicht, aber gegen ihre Auswirkungen – allerdings auch hier erst nach der Inbetriebnahme.

Was würdest Du vom Gesetzgeber für Änderungen am Planungsrecht erwarten? Mehr Bürgerbeteiligung oder mehr Klagerechte?

Vor allem Bürgerbeteiligung während Planung und Bau, von Fachleuten oder wenigstens Leuten, die sich auskennen. Aber auch mehr Klagerechte mit klarer Definition, wer klageberechtigt ist. Auch Begriffe sind zu schwammig und müssen definiert werden, zum Beispiel der „Stand der Technik“ für das EBA. Was bedeutet der überhaupt? Den könnte man genauer vorgeben, also was zu prüfen und vorzulegen ist. Es gibt zum Beispiel eine sogenannte Tunnelrichtlinie des EBA, laut der es bereits eine Baugenehmigung erteilen kann, ohne dass alle für die Inbetriebnahme erforderlichen Unterlagen vorliegen. Bei einigen Dingen ist das sinnvoll, aber nicht bei denen, die bereits beim Bau berücksichtigt werden müssten – wie bei der Simulation der Evakuierung eines brennenden Zuges aus einem Tunnel.

Wir danken für das Gespräch!

Programmhinweis:

Die ARD-Sendung Report Mainz berichtet heute Abend, am 30. März ab 21:50 Uhr, unter anderem über die fehlende Simulation einer Evakuierung eines voll besetzten Zuges aus den Tunneln von Stuttgart 21. Danach wird der Beitrag in der Mediathek zu sehen sein.

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