Ist noch beleidigt von der letzten Bundestagswahl, an der er sich vor vielen Jahren mal beteiligt hat … (Symbolfoto)

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Wenn das Kreuz zu viel Einsatz ist

Eine reibungslos funktionierende Demokratie setzt repräsentative Wahlergebnisse voraus. Nur zeigt sich nach Wahlen oft, dass gerade die sozial Benachteiligten schwer an die Urne zu bewegen sind – und somit völlig unterrepräsentiert.

Von Dennis Stephan

Lange nicht jeder, der seine Stimme abgeben darf, nutzt diese Möglichkeit. Die Gründe scheinen so verschieden wie die Menschen selbst: vielleicht Unzufriedenheit, Arbeitslosigkeit, steigende Lebensunterhaltungskosten oder fehlendes Vertrauen in Politiker durch ungünstige Entscheidungen, Korruptionsskandale, undurchsichtigen Lobbyismus. Das unterschwellige Problem: Die eigentlichen Folgen einer Wahlabstinenz sind kaum absehbar. Wenn ganze Teile der Bevölkerung auf Dauer die Wahl boykottieren, entsteht im föderalistischen System ein Repräsentationsgefälle. Die Auswirkungen der fehlenden Volksvertreter, die die eigene Meinung möglicherweise noch am ehesten vertreten würden, sind auf wenige Jahre meist noch überschaubar. Doch über viele Jahre hinweg, so die Vermutung, verschieben sich essenzielle politische Entscheidungen in Richtung derer, die an der Wahl teilnehmen und sie letztlich entscheiden.

Besonders interessant hierzu ist die 2017 im Verlag Herbert von Halem veröffentlichte Studie „Gib mir was, was ich wählen kann“ der Stuttgarter Denkfabrik, das Forum für Menschen am Rande. Die Idee: Langzeitarbeitslose interviewen langzeitarbeitslose Nichtwählende, um eine gewisse Verschwiegenheit zu verhindern, die etwa aus sozialer Scham oder Ausgrenzungserfahrungen resultieren – eine im gesellschaftlichen wie politischen System typische Erfahrung. In den mehr als 70 durchgeführten Interviews sammelt sich überwiegend der Grundton aus fehlendem Vertrauen in die Politik wie die Politiker, der Macht- und Aussichtslosigkeit: „Weil es eh sinnlos ist.“, „Die sind für mich nicht wirklich glaubwürdig.“, „Die machen sowieso nur, was sie wollen.“, „Erst muss sich wirklich grundlegend etwas ändern.“

Solche Überzeugungen zeugen nicht von Desinteresse. Einige Interviewte sehen das Nichtwählen als ihre Form von Protest, als politisches Statement. Sie setzen sich durchaus mit Parteien und Politikern auseinander, wissen von deren Wahlprogramm. Doch genau das kurbelt wiederum den Teufelskreis an: „Also ich habe immer das Gefühl, es wird ignoriert, was das Volk sagt. Da wird immer nur oben an die Großen gedacht“, sagt Frau J. in der „Unerhört!“, der Hauptstudie der Denkfabrik 2019. Deshalb häufen sich in den Interviews auch Forderungen nach mehr direkter Demokratie.

Wahlbezirke zeigen deutliche Unterschiede

Zu diesem Thema wurde eine Studie durchgeführt, in der festgestellt wurde, dass „politische Entscheidungen des Bundestags zulasten von Menschen mit geringerem Einkommen, geringerer Bildung oder Berufsgruppen mit niedriger Bezahlung verzerrt sind“, sagt Prof. Armin Schäfer im Magazin Gesellschaftsforschung 1/20. „Wenn Politik ungleich auf unterschiedliche Gruppen reagiert, dann droht ein Teufelskreis. Wer sich nicht vertreten fühlt, wählt nicht – und wer nicht wählt, wird schlechter repräsentiert. Im Ergebnis verzerrt dieses Wechselspiel politische Entscheidungen noch stärker zugunsten derjenigen, die sich beteiligen und denen es ohnehin besser geht.“

Das ist laut Schäfer auch in der Ungleichheit zwischen Parlament und Bevölkerung zu bemerken: Dort haben mehr als 80 Prozent studiert, in der Gesellschaft sind es weniger als 20. Die Arbeiterklasse oder andere sind also kaum vertreten – der Querschnitt der Bevölkerung schon gar nicht abgebildet. Die Ergebnisse der Studie gingen aus einer Analyse von verschiedenen Großstädten bei den Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 hervor: „Je ärmer ein Stadtteil ist, je höher die Arbeitslosenquote in einem Stadtteil ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung.“

Bei der ersten Runde der Stuttgarter OB-Wahl vergangenes Jahr lag die Wahlbeteiligung bei 49 Prozent – mit einem Unterschied in den kleinen Wahlbezirken der Stadt zwischen höchster Beteiligung (75,2 Prozent) und niedrigster (17,6 Prozent) von ganzen 57,6 Prozentpunkten. Bei der Neuwahl lag ein Bezirk in Bad Cannstatt (15,5 Prozent) als Schlusslicht nur knapp hinter einem in Weilimdorf. Besonders in Stadtvierteln mit hohem Anteil an Arbeitslosen, Bonuscard-Berechtigten und an niedriger Wohnfläche je Einwohner blieben die Menschen der Urne fern. Diese Viertel ziehen sich auffällig am Neckar entlang: von Hedelfingen und Wangen zum westlichen Untertürkheim, hinein in Bad Cannstatt bis nach Münster. Und dann kommt das einsame Schlusslicht Zuffenhausen (im gesamten Stadtbezirk wählten nur 35,4 Prozent – im Vergleich: Spitzenreiter Degerloch kam auf 61,9 Prozent) bis zum westlichen Weilimdorf (Hausen). Die meisten Bereiche über die ganze Distanz liegen auf der Karte zur Wahlbeteiligung unter 35 Prozent.

Auch das Umfeld spielt eine entscheidende Rolle

Die jüngsten Landtagswahlen zeichneten ein ähnliches Bild ab. Zwar lag die Wahlbeteiligung bei immerhin 64,8 Prozent, doch wieder sind die Zahlen unterschiedlich. Während in Stadtbezirken Degerloch (73,6 Prozent), Sillenbuch (70,7 Prozent) und Stuttgart-West (70,6 Prozent) viele wählen gingen, lagen die Schlusslichter Wangen (56,1 Prozent), Mühlhausen (53,3 Prozent) und Zuffenhausen (52,8 Prozent) erneut deutlich unter dem Schnitt. Zwar sank überall die Wahlbeteiligung im Vergleich zur vergangenen Landtagswahl, aber insbesondere auf Wahlbezirksebene „spiegelt sich das Muster wider, dass die Wahlbeteiligung dort am stärksten zurückging, wo sie ohnehin am niedrigsten ist“, so das Stuttgarter Themenheft zur Landtagswahl.

Die Folgen zeigen sich beispielsweise auf Bundesebene: „Die Entscheidungen des Bundestags haben in den letzten dreißig Jahren sehr viel häufiger mit den Präferenzen von Menschen übereingestimmt, die hohe Einkommen haben oder denen es insgesamt besser geht“, weiß Schäfer. „Sehr viel seltener gab es Übereinstimmungen mit den Präferenzen der Ärmeren. Und diese Diskrepanz ist dann besonders groß, wenn Arm und Reich verschiedene Dinge wollen.“ Genau darin sieht der Professor sogar eine Gefahr für die Demokratie selbst.

Aber die Gründe sind noch komplexer als nur das fehlende Vertrauen in die Politik. „Zunächst einmal wissen wir: Wählen und Nichtwählen sind ansteckend. Man entscheidet also nicht rein individuell, ob man wählen geht oder nicht“, so Schäfer, „sondern das hat auch etwas zu tun mit der Familie, dem Freundeskreis, vielleicht auch mit der Gegend, in der man lebt.“ Wenn im nahen Umfeld folglich Politik kein Thema ist, eine Wahl nicht zur Sprache kommt oder eben als sinnlos erachtet wird, dann tendieren auch die Mitmenschen dazu. Das heißt: Aufklärung bleibt auf allen Ebenen nötig. Offensichtlich ist, dass Parteien wie Politiker reagieren und eine Vertretung zugunsten aller Gruppen ernst nehmen müssen. Für alle anderen bleibt zumindest im kleinen Umfeld die Möglichkeit, beim Plausch in der Kaffeeschlange so ganz nebenbei die kommende Wahl anzusprechen.