Foto: Daniel Knaus

Wenn Du keine Wahl hast

Der Wahlabend: Scheinbar ganz Deutschland wartet gespannt auf die Ergebnisse der Bundestagswahl. Aber was ist mit den Menschen, die nicht mal am Alltag teilnehmen können? Wer auf der Straße lebt, hat einen erschwerten Zugang zur Politik. Daniel Knaus sprach mit Stuttgarter Notleidenden darüber, wie sie die Wahl erleben.

Durch eine Unterführung hasten Passanten. Im Trubel hält eine junge Frau ihre Taschen zusammen. Sie wurde schon einmal beklaut, sagt sie sofort. Für die Wahlen habe sie keine Aufmerksamkeit übrig. „Vor einer Weile konnte ich nicht mehr laufen, meine Füße sind verbrannt.“ Diese stecken in Flip-Flops, zwar dick besockt, im Gedränge aber auffallend ungeschützt. Da die junge Frau immer noch schlecht zu Fuß ist, kommt sie nicht leicht an Essen. Das kauft sie möglichst in der Nähe, für die sozialen Angebote müsse sie teils zu weit laufen. Durch ihre Erzählungen verschwindet die Wahl; ihre Erfahrungen sind düster. „Auf der Straße wird man um die Ecke gebracht, wenn man nicht aufpasst.“ Solche Sätze sagen viele hier.

Anderswo geht es um Zukunftsentwürfe, hier um das Überleben

Bei der fußkranken jungen Frau steht ein magerer Mann. Auch er habe für die Politik keine Zeit. Er will von sich erzählen, aber wie schwierig in dieser Umgebung selbst ein Gespräch ist, zeigt sich gleich. Ein bulliger jüngerer Mann tritt heran und wird wütend, als er etwas von Politik hört. Er schreit rassistische Parolen und beginnt, die Umstehenden übel zu beschimpfen. Sein Hass wirkt so aufgestaut wie wahllos. Die junge Frau kann den Störer etwas beruhigen; solche Aggressionen scheinen für sie normal. Der Schreier geht breitbeinig zur Seite, kreist aber weiter umher. Hier schrumpft die Gegenwart auf wenige Sekunden. Die junge Frau hofft auf etwas Geld für eine Brezel.

Wer hungern und frieren muss, fragt erstmal nicht nach politischen Diskursen

Wenig entfernt sitzt ein Mann mit entzündeten Augen. Er sieht still ins Gedränge. Obama mochte er, allgemein fühle er sich aber nicht vertreten, sondern vergessen. „Uns geht es schlecht – und wir haben mehr Probleme als Hilfe.“ Die Passanten wüssten nicht, was die Straße bedeutet, was Notleidende erleben müssen. „Hier ist jeder Tag ein Kampf. Manchmal geht es Mensch gegen Mensch.“ Besonders der Streit macht ihn traurig. Wieder weicht die große Erzählung von den Wahlen und der Zukunft vielen kleinen Erzählungen von Enttäuschungen und Leiden. Zwischendurch begrüßt ihn eine Frau und schenkt ihm neue Schuhe, gebraucht, aber ungefähr passend – die Wahl zwischen diesen und seinen kaputten alten fällt ihm leicht. Die Entscheidungen auf der Straße sind einfach, doch bedeutend.

Eine schmale Gestalt liegt neben den auf- und abtretenden Schuhen

Der bärtige Mann schläft nicht und starrt nur erschöpft vor sich hin. „Von den Wahlen bekomme ich wenig mit. Ich habe heute keine Kraft mehr.“ Manche Probleme liegen hier auch so nahe, dass sie alle abstrakteren entfernt scheinen lassen. Eine ältere Frau hängt schlaff zwischen ihren Tüten, als könne sie die Last nie wieder aufnehmen. „Ich bin den ganzen Tag gegangen. Jetzt darf ich nicht einschlafen, sonst klaut mir jemand mein Zeug.“ Anderswo wird nun über Milliarden verhandelt und von neuen Technologien gesprochen, hier fürchten sich alle vor den ersten kühleren Nächten. Allen graut vor dem Winter.

Aber auch notleidende Menschen haben viel zu sagen

Vor der Unterführung sitzt ein älterer Mann im Rollstuhl. Er scheint tief in Gedanken versunken. Erst flüstert er, die Menschen seien hilfsbereit, dann sind seine Augen aber überschattet – er habe auch viele schlechte Erfahrungen gemacht. Früher ging er zur Wahl. Seine Worte zur Politik klingen überparteilich und behutsam wie vom Bundespräsidenten, auch humorvoll. Alle Parteien sollen das Grundgesetz bedenken. „An die Gebote der Verfassung sollen sich alle halten: Politiker, einfache Leute und auch die Bankangestellten.“ Er will M genannt werden, „M wie Mensch“.