Fotos: Daniel Knaus

Wo jeden Tag Black Friday ist

Um Shopping geht es hier nicht – in der Seitenstraße eines Kaufhauses sammelt eine ältere Frau Münzen. Die braucht sie für das Nötigste, deshalb setzt sie sich auch der Gefahr von Beleidigungen und Angriffen aus. Sie erzählt von einem Wohnungslosen, der angezündet wurde: Er war erschöpft vom Umhergehen in der Kälte, kroch im vermeintlichen Schutz eines Wäldchens tief in seinen Schlafsack hinein; dann wollte ihn jemand verbrennen.

Von Daniel Knaus

„Black Friday klingt für mich nach einem Trauertag“, murmelt die ältere Frau. Der Angezündete konnte flüchten, sei aber verschollen. Sie denke oft an seine Geschichte; die Schaufenster rechts und links interessieren sie kaum. „Moden jucken mich nicht mehr, weil ich das Leben kenne. Black Friday erinnert mich daran, pleite einen Tag lang zu hungern. Das nannte eine Freundin Schwarzfasten.“ Sie schaut die Fassaden hoch und zählt dann ihre wenigen Münzen. Immerhin schläft sie zurzeit unter einem Dach, anders als in früheren Jahren – und anders als viele Notleidende einige Schritte weiter. „Mir geht es ganz gut“, sagt die Grauhaarige. „Wer jetzt im Winter draußen schlafen muss, ist schlimm dran. Nicht nur wegen Frost; hier wirst Du schnell zur Zielscheibe.“ Was sie anderen Notleidenden rät? „Bloß aufpassen, wenn schnelle Schritte kommen!“ Und was sie Passantinnen und Passanten rät? „Auch die zu beachten, die vor Kälte krampfen und im Dunkeln nicht wissen wohin. Das sind auch gescheite und nette Leute, aber sie brauchen halt Hilfe.“

Menschen erfrieren schon bei Plusgraden – nun hat es Minusgrade

Um die Ecke sucht ein junger Mann Schutz vor dem eisigen Wind. Seine Jacke ist zu klein, zeigt die Gänsehaut seiner Handgelenke. „Aufwärmen. Aufwärmen will ich mich“, prustet er, reibt seine rauen Hände und versucht, die Ärmel länger zu ziehen. Das schafft er nicht und hustet. „Hoffentlich kein Corona, ich bin doch geimpft und kann mir keine Krankheit leisten.“ Eigentlich müsse er Spenden sammeln – einige Münzen für das Abendessen und die Toilette. Er konnte aber nicht länger im Wind sitzen bleiben. „Auf dem Pflaster friere ich noch fest. Einfach aufstehen darf ich aber eigentlich nicht. Sonst bekomme ich nichts, nur Bauchweh vor Hunger.“ Das sei seine Zwickmühle. „Durch das ewige Sitzen kühle ich aus, werde taub und irgendwann heißt es: Hungern oder Erfrieren.“ Weil Passantinnen und Passanten allerdings nicht nur Spenden, sondern auch Sicherheit vor Angriffen bedeuten, fürchtet er die Flaute während eines Lockdowns: weniger teilnehmende Blicke und Einsamkeit in finsteren Stunden.

„Manche Leute beschimpfen mich“, sagt er. „Das ist bedrohlich.“

Heute sei kein übler Tag, denn eine Gruppe Mädchen schenkte ihm eine Pizza. Sie balancierten die Schachtel neben ihren Einkaufstüten aus den belagerten Shops. „Wahrscheinlich kamen sie aus schlechtem Gewissen zu mir. Dankbar bin ich ihnen trotzdem.“ Mitfühlende Gesten wärmen von innen, auch wenn ihm Münzen lieber sind – um flexibel zu sein und nicht immer Fastfood zu essen. Ohne eigenen Herd gebe es das zu oft. „Auf der Straße lebst Du ungesund“, lacht der knochige Zwanziger wehmütig, „zur Kälte kommt schlechtes Essen. Hier alterst Du vorzeitig.“ Er sei auch durchgehend unter Stress, eben ständig von den Fragen geplagt: Wann kann ich mich aufwärmen? Wo liege ich heute Nacht sicher? Wie komme ich morgen an Essen? Vom Black Friday wusste er zunächst nichts, aber dann wunderten ihn die Schlangen vor den Geschäften, „dass die Menschen freiwillig in der Kälte stehen, obwohl sie doch Wohnungen haben!“

Jeder Mensch braucht einen Platz für sich

In der Dämmerung bricht die ältere Frau auf. „Jetzt sehe ich die Gesichter nicht mehr richtig, das macht mir Angst.“ Ihr Zimmer habe zwar nur Wände aus Beton, die seien aber Gold wert. „Wer abends heim ins Warme kann, der ist glücklich.“ Wohnen ist gesund: Im eigenen Raum finden wir auch nach einem Schwarzen Freitag etwas Ruhe. Der junge Mann sucht derweilen einen Schlafplatz; wo genau – das verrät er natürlich nicht. Das wäre gefährlich. Die ältere Frau fühlt mit ihm. „Ein Mensch erfriert in kurzer Zeit. Beim Black Friday geht es aber nur um Dinge. Kann die Gesellschaft vielleicht auch Spaß daran finden, den Armen zu helfen?“