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Wovor haben obdachlose Menschen Angst?

Obdachlose zu den Stuttgarter Farbangriffen

Farbangriffe auf Obdachlose – diese entsetzten in der ersten September-Hälfte nicht nur Stuttgart, sondern das ganze Land. Schlafende Notleidende wurden mit Farbe übergossen, bis am 20. September ein mutmaßlicher Täter gefasst wurde und die Serie vorerst endete. Doch endet auch der Schrecken auf der Straße? Wie nehmen Obdachlose die Angriffe wahr?

Von Daniel Knaus

„Haben Sie Angst vor den Farbangriffen?“, frage ich im September verschiedene obdachlose Menschen (Namen redaktionell geändert). Die erste Antwort ist meist gleich und kann Bürgerinnen und Bürger aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft verblüffen: „Welche Farbangriffe?“ Fast allen meiner Kontakte sind die Angriffe auch nach zwei Wochen regelmäßiger Wiederholung noch unbekannt. Meine erste Einsicht lautet: Obdachlose sind durch materiellen Mangel, Sprachbarrieren oder kognitive Einschränkungen medial derart benachteiligt, dass sie viele Themen gar nicht miterleben – auch nicht eine Serie von Gewaltverbrechen, die sie scheinbar in Angst versetzt.

Brandspuren vom geschmolzenen Kunststoff des Schlafsacks

Die bekannten Fakten zu den Angriffen interessieren fast alle meiner Kontakte; doch auch ihre weiteren Reaktionen entsprechen kaum den verbreiteten Erwartungen. Angst vor einer drohenden Beschmutzung mit Farbe höre ich nämlich von keiner einzigen Person – nicht von Markus: „Ängste habe ich doch schon genug; Leute treten mich oder meine Dose weg, spucken mich an und drohen mir alles Mögliche an“ – und nicht von Harald: „Farbe klingt ja demütigend, aber ich wurde schon mal angezündet! Das war unter einer Brücke; die Jungs kamen von beiden Seiten und ich hätte keinen Fluchtweg gehabt, selbst wenn ich rechtzeitig aufgewacht wäre. Auf dem Beton waren dann Brandspuren wie im Krieg – vom geschmolzenen Kunststoff des Schlafsacks.“

Manche Reaktionen Obdachloser zu den Farbangriffen dürften viele Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft sogar irritieren. Justus lebt schon zwanzig Jahre auf der Straße und prustet los: „Farbe? Was für eine Clownerei! Wer das tut, gehört doch in den Zirkus!“ Wütend macht ihn nur ein Gedanke: „Farbe ist doch teuer. Das Geld könnte ich für ein Mittagessen brauchen.“ Gewalt zu erleben und dabei jeden Tag um ein warmes Essen zu bangen, scheint für Justus so normal, dass ihn die Nachrichten wenig berühren. Ähnlich geht es Sabine; sie leidet als obdachlose Frau aber unter einer besonderen Gefährdung. „Sitze ich beim Schnorren, drücken sich Typen an mich ran oder setzen sich mir gegenüber, wobei ihnen der Sabber aus dem Mund läuft. Und hinter mir her sind die Kerle, selbst wenn ich in Bewegung bin, sobald ich nur ein bisschen obdachlos aussehe; was bei geschlossenen Toiletten schnell passiert. Obdachlose Frauen sind halt Freiwild.“

Trauriger Trick zur Abschreckung

Mögliche Mittel zur Selbstverteidigung kennt Sabine viele; praktisch funktioniert auf der Straße aber alles anders als gedacht. „Pfefferspray weht Dir auch mal ins Gesicht zurück. Auf das vertraue ich nie wieder. Als ich noch auf Heroin war, haben mir Freunde aber einen Trick verraten – um Angreifer abzuschrecken. Bewahre eine Spritze auf, die noch blutig ist! Alle Leute haben so eine Angst vor HIV, dass bei gezeigter Spritze auch wütende junge Typen einen Bogen um Dich machen.“ Eine Lösung für mehr Sicherheit? „Natürlich nicht, eigentlich absurd; die Drogen machen Dich kaputt. Süchtig leidest Du ganz eigene Ängste, zum Beispiel vor einem Entzug auf der Straße ohne medizinische Hilfe; der ist leicht tödlich. Letztlich hast Du hier draußen nie gute Abwehrchancen. Willst Du denn eine Machete mit Dir im Rucksack herumtragen? Wer das größere Messer hat, wird vielleicht seltener angegriffen. So einen Spezialisten kannte ich mal – den hat aber irgendwann die Polizei kontrolliert und dann war er dran.“

Worüber sprechen Obdachlose also? Über die Beklemmung gegenüber fremden Passanten. Carlos: „Du liegst da und siehst all die Schuhe; und Du weißt, dass die Leute auch moralisch auf Dich hinabblicken.“ Über die Angst, von Ordnungskräften ungerecht behandelt zu werden. Nadine: „Die haben mich auf dem Schirm, weil ich anders aussehe.“ Über die Furcht vor Ausbeutern und Betrügern, zum Beispiel vor Anwerbern für Schwarzarbeit (etwa im Bausektor). Tarek: „Da gibt es Typen, die machen uns Versprechungen, brechen uns aber eher die Knochen, als uns zu bezahlen.“ Über die häufige Panik, wenn irgendwo im Dunkeln laute Schritte näher kommen. Alan: „Bist Du allein, darfst Du nie mehrmals am selben Ort schlafen. Sonst erwartet Dich jemand. Wenn Du aber irgendwo neu bist, weißt Du auch nicht, wen Du hier provozierst an Ladenbesitzern, Anwohnern oder Psychos – und was für einen Ärger Du bald sprichwörtlich am Hals hast.“

Der Stress, nie in eigene vier Wände einzukehren

Und natürlich sprechen Obdachlose auch über den Stress, nie in eigene vier Wände heimzukehren und ständig um die schiere Existenz zu kämpfen. Dunja: „Wo gibt es ein warmes Essen? Wo ist die nächste Toilette, überfällt mich da einer? Ich bin krank, wie kuriere ich meine Erkältung aus, bevor sie auf die Lunge schlägt? Wo wasche ich meine Unterwäsche, da ich nicht mehr zu meiner Anlaufstelle will, weil mich dort eine Stärkere anfeindet? Seh ich meine Familie wieder und nimmt sie mich auf?“

Auf der Straße gehen also viele Ängste um. Oft bleiben sie im Dunkelfeld – wie viele obdachlose Menschen selbst. Wahrscheinlich schaffen es die meisten Sorgen Betroffener gar nicht ins Fernsehen und bestenfalls hier in unsere Straßenzeitung. Nun war der Tatverdächtige der Farbangriffe allerdings selbst obdachlos. Dazu Sabine: „Machen mich andere arme Leute fertig, dann fehlt die Solidarität. Aber es wundert mich nicht; das Leben auf der Straße kann einen brechen. Kranke werden hier noch kränker, manche stumpfen ab oder knallen durch. Wenn neben den Opfern auch der Täter obdachlos war, hat die Gesellschaft gleich zwei Gründe, uns mehr zu helfen.“