Fortsetzung der Geschichte aus 10/24

Von Chris Unger

 

Wenn es Kontrolleur*innen in ihrem Abteil gab, würden diese sie, wenn sie sie sehen, sofort mit ihren Blicken fixieren, und sie müsste aussteigen, noch bevor sie aufstünden. Meistens wurden sie dadurch erkennbar, das sie zu dritt in unauffälliger Kleidung mit Umhängetaschen, in denen sie ihre Geräte aufbewahrten, an einer Tür standen. Und dann eben ihr Blick, wenn sie sie sahen. Sie hatte nicht nur mit einer Geldstrafe zu rechnen, auch mit Schikanen und Demütigungen, denen sie sich nicht erwehren konnte. Dies machte diesen Moment des Einsteigens zu einem der schwierigsten in ihrem Alltag.

Sie atmete tief ein, die Tür öffnete sich, sie atmete aus und stieg ein. Ihre Brust und ihr Bauch zogen sich zusammen, und sie sah den ersten ins Gesicht. Hochgezogene Augenbrauen, abgewendete und versteinerte Gesichter, gestresse und von Müdigkeit ausgezehrte Gesichter. Auch ein Fröhliches, Frisches, das sie neugierig, aber auch bemitleidend ansah.

Sie war vorerst außer Gefahr, wendete sich zur Seite und stand vor einem Fenster, in dessen Spiegelung sie sich selbst sehen konnte. Heute zum ersten Mal.

Ihr dunkles Haar war zerzaust, ihr Gesicht müde, doch in ihren Augen lag das glühend heiße Feuer des Überlebenswillens, was gut zu den Buchenblättern in den Farben des Herbstes auf ihrem grauen Mantel passte. Sie selbst sah ihr glühen nicht. Es war Alltag geworden.

Sie setzte sich ganz vorne seitlich auf einen Sitz auf Gangseite hinter die Fahrerkabine, neben der sich direkt eine Tür befand. So sah sie die Menschen am Bahnsteig, und konnte bei Verdacht einer Kontrolle schnell entgehen, wenn sie ihren Rucksack aufbehiehlt. Sie fuhr so sechs Stationen bis an den Rand der Innenstadt Würzburgs.

„Sanderring“ tönte es aus den Lautsprechern, und sie stand auf, und fühlte an diesem Tag zum ersten mal Hungerschwäche. Der Moment, in dem ein Muskel nicht mehr die ausreichende Kraft hat, eine angeforderte Aktion auszuführen. Ihr Kreislauf brach kurzzeitig zusammen, so kurz, das sie es realisierte, weil es schon so oft geschehn ist. Sie hielt sich kurz fest, schloß die Augen und ihr Magen krampfte sich aufs fürchterlichste zusammen. In der Kenntnis dieser Situation atmete sie einmal ruhig ein und aus, öffnete die Augen und der Überlebenswille setzte sie wider in Gang, hinaus auf den Gehweg.

Stoisch lief sie nach links.

Die Mülleimer im Blick, die Augen abgewendet von den Menschen des Morgens. Den ersten erreicht, zog sie den wertvollen Vierkantschlüssel aus der inneren Reißverschlusstasche ihres Mantels.

Nun kam der Moment der Wahrheit, den dies war ein Stadtmülleimer, kein Imbissmülleimer wie der von vorhin, indem Imbissmüll zu finden ist. In diesen Mülleimern kann theoretisch alles drin sein. Einmal fand sie einen Geldbeutel. Mit Geld. Das war ein gutes Jahrzehnt her, dennoch hatte sie dannach drei unvergessliche Monate, in denen sie dauerhaft satt war, ohne mit irgendeinem Menschen sprechen zu müssen.

Diesmal fand sie einen Dönerrest. Garnicht so wenig. Fast ein Drittel. Weggeschmissen. Sie zog zuerst die Fladenhälften ausseinander und schaute hinein, und wühlte ein bisschen im Fleisch-Gemüse-Sauce Mischmasch, weil sie schon böse Überraschungen wie Dosenverschlüsse oder Glasscherben im Essen fand, jedoch nicht mit ihren Augen.

Sie befand den Dönerrest für essbar, setzte den Rucksack ab und ging davor ganz langsam in die Knie, die freie Hand weit unters Gesäß gestreckt, um nicht zutief zu fallen, lies sich nach hinten kippen und kam wie gewohnt auf. „Frühstück“. Das wort ploppte in ihrem Kopf auf, wie eine Einleitung zum Dopaminausstoßen. Das Seufzen der Entspannung durchfuhr sie, und sie biss in den kalten Döner, und es war himmlisch für sie. Das waren Kalorien für die nächsten sechs Stunden. Fette, Gemüse und Brot. Nun störten auch die bohrenden Blicke der Menschen nicht mehr so sehr. Manchmal bedeutet Glück, nur einen klaren Verstand zu haben.

Sie saß da für eine halbe Stunde und aß. Eilige, besorgte, suchende liefen an ihr vorbei. Eine Schulklasse auf dem Weg zum Sportunterricht. Einige Nonnen. Eine Mutter mit Kinderwagen und einem weiteren Kind, das sich daran festhielt. Sie sah nur ihre Schuhe. Niemals würde sie einen Augenkontakt provozieren, wenn es nicht notwendig wäre, wie in der Strassenbahn.

So erkannte sie die Menschen an ihren Schuhen und Beinkleidern. Die Nonnen hatten das Typische Grau und liefen meist ihres Alters wegen langsam, aber zielgerichtet.

Die Schulklasse war eine Ansammlung kleiner Schuhe, und laut, deswegen leicht auch ohne Schuhe zu erkennen. Die eiligen Geschäftsmenschen am schnellen Schritt mit rücksichtslosem Geradeaus, auch mal mit lauter Wichtigtuerei am Telefon.

So aß sie vergnügt, und sah die Menschen durch ihre Schuhe und Beinkleider in ihren völlig anderen Leben an ihr vorbeiziehen.

Sie wechselte langsames kauen mit kleinen Schlücken aus ihrer Wasserflasche, die sie nun auf den Rucksack gestellt, und an die Wand gelehnt hatte, weil es wärmer geworden war, und Dora ihren Mantel ausgezogen hatte.

 

“Entschuldigen sie?” sprach ein Mensch links von Dora, den Schall merkwürdig zu ihr gerichtet. Dora veränderte nichts an ihr selbst, in der tiefen Hoffnung nicht gemeint zu sein. Verunsichert kaute sie den letzten Bissen und schaute weiter Schuhe an, die an dieser Szene vorbeiliefen.

“Hello, do you speak english?” Hello und english war alles was in Doras Kopf ankam. Ihre Gesichtzüge hatten sich verhärtet, in der aufgekommenen Gewissheit, gemeint zu sein. Sie schüttelte langsam den Kopf.

“Geht es ihnen gut?” Diese über die Absurdität hinausgehend lächerliche Frage löste eine alte Wut in Dora aus, doch sie kam nicht bei ihrem Gesicht an, jedoch bei ihrem Nacken, der sich grade soweit drehte, um die Schuhe der Person anzuschauen.

Es waren hellbraune Lederstiefel, farblich abgestimmt zum sauberen türkisen Filzmantel mit Knebeln aus Horn, dessen unterer Rand gerade noch über den Stiefeln hing. Nebendran die enorm große Handtasche, ebenso aus Leder.

Dora schüttelte erneut den Kopf, in einer gewissen Gleichgültigkeit, und der Hoffnung, diese Person bald loszusein.

“Sie müssen doch schrecklich frieren, darf ich ihnen was zu essen kaufen?” Da vorne gibt es eine Bäckerei! Ich könnte ihnen auch einen Kaffee bringen.

“Sie sietzt mich, das ist selten.” dachte Dora. Speziell von Leuten die ihren Reichtum nach außen tragen, war sie soetwas nicht gewohnt.

Dora schaute nun in ihr Gesicht. Sie war um die 50 Jahre alt. Freundlich, jedoch besorgt ihr Ausdruck. Doras Kopf folgte der deutenden Hand Richtung Bäckerei, welche zugleich eine Konditorei war.

Allein der Gedanke, von dieser Konditorei etwas zu essen, erschien Dora unwirklich.

Dora schaute der Mitfünfzigerin wieder ins Gesicht, und schüttelte diesmal deutlich, mit einem angedeuteten Lächeln den Kopf, und senkte den Blick wieder auf Schuhebene.

“Wie trinken sie ihren Kaffee?” Fragte sie hartnäckig, so als hätte Dora eine Kaffemaschine im Wald.

Dora starrte zu Boden. Sie dachte darüber nach, wie Menschen wie sie wohl leben müssen.

Sie musste wohl zu eben denen gehören, die sich die Auswirkungen von Hunger nicht vorstellen konnten, weil sie im Leben noch keine Mahlzeit verpasst haben. Dennoch schien sie Mitgefühl zu empfinden, denn sie investierte Mühe und vorallem Zeit. Das, von dem die Menschen des Morgens am wenigsten haben.

 

Sie schüttelte den Kopf. Fast wäre ihr ein “schon gut” von den Lippen gekommen, weil diese Person wirklich freundlich war und in guter Absicht zu handeln schien.

“Sie sind doch völlig ausgezerrt und bleich.” Die Frau ließ nicht ab. “Darf ich ihnen eine Kleinigkeit kaufen?

Dora seufzte resigniert. Im Beschluss, wegzulaufen, sobald sich die Frau Richtung Konditorei aufgemacht hatte, nickte sie langsam.

Die unbekannte Frau machte sich unverzüglich auf und lief nach rechts mit zielstrebigem Blick von Dora weg, so als hätte sie eine wichtige Mission zu erledigen.

Sie schaute ihr kurz hinterher, und musterte dann ihren Rucksack, um kurz innezuhalten, bevor sie sich auf den Weg machte. Sie schaute nochmal nach rechts, in Richtung Konditorei und sah aus derselben Richtung einen Anzugträger, der eilig im rennen seinen Geldbeutel zückte. Zwei Münzen fielen heraus, insgesamt vier Euro, erkannte Dora, als sie auf dem Asphalt aufprallten, und keine drei Meter vor ihr zum Stillstand kamen.

Der Mann drehte im Rennen kurz den Kopf, und rannte weiter. Die Zeit war ihm das Geld wert.

Dora stand langsam auf. Mit Muskelkater im Becken und eingeschlafenen Waden konnte sie sich nicht sehr schnell bewegen, doch erreichte die Münzen nach einigen Sekunden. Sie hob sie auf, wie einen Schatz, der ihr schon häufiger begegnet war, und drehte sich um, um direkt ihren Rucksack zu fixieren, der daliegen sollte wie immer.

Auf ihm stand eine Tüte. Sauber und aus Papier. Offensichtlich mit etwas darinnen, denn sonst hätte der Wind sie davongefegt. Und vor dem Rucksack ein merkwürdig großer Pappbecher mit Plastikdeckel, aus dessen Öffnung es dampfte. Der Wind drehte, und Dora roch den Kaffee. Ein Luxusprodukt. Sie sah ebenso noch einen türkisen Zipfel ums Eck des Hauses an der nächsten Abbiegung der Haupstraße verschwinden.

Diese Lebensmittel, welche Luxus waren, lagen nun in Doras Verantwortung. Sie musste sie konsumieren. Es gab kein zurück für Dora. Sie musste in die Tüte sehen.

Sie fühlte ihren Magen flau werden. Ein Gefühl unsicherer Angst. Die Münzen in die Hosentasche gesteckt verharrte sie kurz.

Eine Windböe kam auf, und drückte die Tüte zum Kaffeebecher, und instinktiv bewegte sich Dora darauf zu, ihre starre blitzartig gelöst. Plötzlich war sie in ihren Händen.

Sie roch frisches Brot. Zwischen freudiger Verzückung und Angst vor dem, was sie meinte nicht zu verdienen, öffnete sie die Tüte.

Zwei weitere kleine Tüten aus Papier, die eine mit Fettflecken, die von innen herrührten, verdeckten ein scheinbares Halbrund, in Plastik verpackt. Die andere saubere Tüte war fast vollständig ausgefüllt, und am Rand knapp zusammengefaltet. Dora öffnete sie zuerst.

Ein Brot. Groß und frisch. Ein Brot aus Weizen und Roggen. Mit dem Wasser im Mund zusammenlaufend, legte Dora das Brot auf den Rucksack, die Tüte vorsichtig eingefaltet.

Nun die Zweite Tüte. Fettig am Rand, gekühlter Inhalt. Ein Sandwich, mit Weizenbrot und Lauge. Remoulade, fand Dora herraus, war die Zutat, die die Tüte von innen verfettete. Mozzarellascheiben, die sich mit Tomatenscheiben abwechselten, schön angeordnet, mit frischem Schittlauch. Eine Köstlichkeit. Doras Magen grummelte Laut, und Dora sagte ganz leise “Bald”.

 

Sie legte auch diese Tüte zur Seite.

Ein Halbrund, eng mit Plastik zugeschweißt. Der Preiskleber war noch drauf. Dora lachte das lachen eines Menschen, der das unwirkliche als Tatsache begreift. Sachertorte. Eine ganze Halbe.

Der Wind drehte erneut und Dora roch den Kaffee. Den, den sie nicht trinken konnte, weil er ihren Darm aus dem sowieso zerbrechlichen Gleichgewicht geworfen hätte. Sie wollte ihn loswerden, aber nicht wegschütten. Kurz kam in ihr der Impuls auf, ihn anderen Menschen anzubieten, doch den verwarf sie sofort.

Sie stellte ihn auf eine Mülltonne, in der Hoffnung, jemand würde ihn aufsammeln.

Gefasst nahm sie die Sachertorte aus der Tüte herraus, und stand dort eine Weile und starrte in die Tüte.

“Soviel Geld. Einfach so. Was soll ich davon kaufen?” Fragte sich Dora.

Sie nahm die 50 Euro Note aus der Tüte, legte Sachertorte und die zwei kleinen Tüten wieder in die große, und steckte das Geld in ihre innere Manteltasche mit dem zuverlässigen Reißverschluss, und verschloß diesen.

Danach stellte sie die Tüte neben sich, richtete den Rucksack auf und öffnete die oberen Bänder, zog sie durch die Verschlüsse um mehr Raum zu schaffen und klappte das Kopffach nach hinten, legte die Tüte auf den unter dem Kopffach liegenden Bereich, klappte das Kopffach zurück und schloss die oberen Bänder wieder, und zog sie in aller Vorsicht fest, um das Gebäck nicht zusehr zu quetschen.

Sie musste auf die Toilette. Hier hatte sie es leichter als andere. Sie machte sich auf zur Bücherei.

Die Straße hoch, and der Konditorei vorbei, den Ratskeller links liegengelassen und über den Marktplatz, den Blick zu Boden gerichtet, war Dora innerlich angespannt. Der Geruch des Gebäcks in ihrem Rucksack wurde vom Rückenwind in ihr Gesicht getragen. Kurz fühlte es sich wie eine Bürde an, die sie sprichwörtlich trug, und in diesem Gefühl nahm sie die Klinke der Tür zur Bücherei in die Hand.

Im Foyer angekommen stand sie vor einem Tresen, der sich längs zur Eingangstür streckte.

Schon wurde sie freundlich angelächelt und Dora passierte lächelnd, mit gesenktem Kopf die Klappe, die mit einem klicken ihr Schloss auf Knopfdruck der Pförtnerin öffnete.

Dora stellte ihren Rucksack hinter der Pforte ab, sodass er in Sichtweite der Pförtnerin blieb, und nahm aus dem Kopffach zwei halbwegs saubere, jedoch trockene kleine Handtücher aus dem Kopffach,und bewegte sich wortlos, jedoch erleichtert zur Toilette.

Dies war in der Tat eine der schönsten Zeiten am Tag für sie. Diese Toiletten waren in der Regel sauber, und einzeln in zwei Zweierpaaren auf jedem Stockwerk verteilt. Sie konnte die Tür von innen abschliesen, und sich sicher sein, das niemand sie stören würde. Auch nicht durch Geräusche. Manchmal fragte sie sich, wenn sie dort stumm auf der Toilette saß, wie dieses Gefühl der Privatsphäre sich anfühlen muss, wenn man sie die ganze Zeit haben kann.

Bei allem was man in so einer Wohnung macht. Man könnte nackt Staubsaugen. Dora lachte ob dieser Idee.

Oder Geschirr spülen. In der Badewanne essen. Oder im Bett. Wie das Leben sich wohl anfühlen muss, mit einem Hausschlüssel.

 

Dora zog sich nach dem Toilettengang aus, und nahm eines der Handtücher, machte es mit Seifenwasser im Waschbecken nass und wusch sich. Sie würde ihre Kleidung im Bach per Hand grade so saubermachen können, das sie nicht zu sehr stank. Und das auch nur wenn es trocken blieb. Doch diesmal war sie wie so oft gezwungen, die alte Kleidung wieder anzuziehen.

Diese unliebsame Tätigkeit beendet, machte sie sie auf den weg zurück zum Foyer, und mit einem Blick der prüfte, ob sie die Toilette sauber verlassen hatte, schloß sie die Tür.

Ein spezielles Herzklopfen stellte sich bei Dora ein. Es war das Herzklopfen der Optionsabwägung.

Sie hatte jetzt Optionen. Sie konnte eine Wahl treffen, dank dem Geld und dem Essen. Nur dieser Umstand füllte sie mit Adrenalin an, und mit einer lange nicht gefühlten Energie ergriff sie den Rucksack, der ganz alltäglich an der Wand der Pforte anlehnte. Sie schenkte der Pförtnerin ein seltenes Lächeln, drehte sich um und öffnete die Tür, und stand wieder auf dem Marktplatz.

Sie hatte sich ihre Energie, die sie brauchte, um eine langfristige Entscheidung zu treffen, für diesen Moment aufgehoben.

Sie ging zum Main. Dort war es schön zu sitzen, auf der Brücke, zwischen den Statuen, die am Rand der Brücke zwischen Ausbuchtungen stehen. Angekommen in der Mitte legte sie ihren Rucksack mit den Gurten nach unten zu Boden, und holte die Papiertüte hervor. Danach setzte sie sich auf den Rucksack, die Menschen an ihrem Rücken vorbeiziehen lassend und öffnete mit Vorsicht die Tüte. Zu ihrer Freude stellte sie fest, das die Backwaren garnicht so zerquetscht waren wie sie dachte.

Sie nahm die fettige Tüte herraus, und öffnete sie behutsam.

Ein Sandwich, mit Weizenbrot und Lauge. Mozzarellascheiben, die sich mit Tomatenscheiben abwechselten, schön angeordnet, mit frischem Schittlauch. Eine Köstlichkeit.

Kurz konnte Dora garnicht fassen das sie im Begriff war dieses Sandwich zu essen, doch ihr Magen grummelte laut, und sie biss hinein.

Die Tomate zerfloss in die Remoulade, welche den Mozzarella einhüllte. Der Schnittlauch war frisch und es wurde nicht damit gegeizt, und die leichte Schärfe rundete das Weizenbrot ab, und schaffte eine Brücke zwischen Lauge und Fett. Normalerweise träumte Dora von so einem Sandwich, das frisch und unversehrt war und keine Mülltonne von innen gesehen hatte. Und so unwirklich erschien es ihr. Sie saß dort gut eine Dreiviertelstunde und aß und schaute auf den Main, und der letzte Bissen war der köstlichste, denn er wurde mit Wehmut genossen.

“Es gibt wohl Menschen, die sich jeden Tag so ein Sandwich kaufen können.”dachte Dora.

“Die haben genug Geld, um nicht mal darüber nachzudenken, was das ist. Ein Luxus.

Jeden Tag. Ist es dann überhaupt noch Luxus?

Und dann gehen sie vielleicht noch ins Restaurant. Und lassen sich mit dem Taxi nach Hause fahren, und dort finden einen Kühlschrank voller Essen. Und lassen ihn zu und gehen schlafen.

Und morgens macht eine Maschine ihnen einen Kaffee, und sie trinken ihn sorglos, weil die Toilette nicht weit ist. Und sauber. Jeden Tag.

Und auf dem Weg zur Arbeit kaufen sie sich noch ein Sandwich, und nach dem fünfzigsten Sandwich haben sie Verstopfung, und kaufen sich in der Apotheke ein Abführmittel, um zwei Tage später wieder Sandwiches zu essen.

 

Und ich kaufe mir nachher Lebensmittel im Discounter. Und wenn das Geld nach zwanzig Tagen aufgebraucht ist, geht alles wieder von vorne los.”

Dora machte sich auf den Weg in den Wald. Die Brücke weiter entlang gelaufen bog sie nach links ab, um dort nach einer Weile wieder auf die Strassenbahnlinie zu treffen, mit der sie in die Stadt gefahren war.

Sie entschloss sich dank der Energie vom Sandwich, eine Weile der Linie zu Fuẞ zu folgen, um das Risiko beim Schwarzfahren erwischt zu werden zu verringern.

Die Vögel des Abends begannen zu singen. Ein leichter Sprühregen setze ein. In der Gewissheit, heute keine Kleidung waschen zu können, setzte Dora ihre weite Kapuze auf.

Aus den Fenstern der Häuser, an denen sie vorbeilief, schien Licht. Menschen liefen in Räumen umher. Menschen die ein ganz anderes Leben führten als Dora.

Der wechselnde Wind verwehte den Sprühregen, und treibte ihn in die Kapuze bis unter Doras Ohrläppchen.

Ihr wurde kalt, und diese Kälte gehörte ihr. Die Menschen hinter der Wand spürten sie nicht, mit ihren Heizungen und Dämmstoffen. Denn sie konnten immer dahin zurückkehren, mit ihren Hausschlüsseln. Die gehörten ihnen.

Dora fühlte die Kälte mit Hilfe der Feuchtigkeit in ihre Knochen ziehen, und sie harnischte sich, auszuhalten. Ihre Wand war ihre beinahe unerschöpfliche Resilienz.

Wenn es kein Ziel für sie gab, war das Ziel das erreichen des nächsten Tages. Die Menschen hinter der Wand nennen das “überleben”, wusste Dora. Doch sie hatte ein Ziel, das über den nächsten Tag hinausging, und dies verlieh ihr Kraft, in stählerner Härte die Menschen zurückzulassen, die in den Häusern lebten, an denen sie nun vorbeilief.

Sie würde in eine größere Stadt fahren. Gleich Morgen früh. Eine größere Mengen an Optionen. Mehr Chancen. Weniger Würzburg.

Es reicht gerade für ein Ticket mit der Bummelbahn nach Köln, und ein paar Lebensmittel. Brot hatte sie ja und, sie hatte sie beinahe vergessen, Sachertorte. Die würde sie heute Abend noch probieren. Mit Tee. Und morgen nach Köln. Containern soll dort sehr leicht sein, hatte Dora mal gehört.