Kurzgeschichte von Niko Mahle

 

Berti

 

Samstag. Markttag. Ich habe einen der beliebtesten Plätze ergattert. Mit Blick auf das geschäftige Treiben der Marktstände unweit des Brunnens verkaufe ich die neue Ausgabe der Trott-war.  Ich bin Berti, 57, mittelgroß, mit kurzen grauen Haaren und Augen, die viele an Gletschereis erinnern. Mein Gesicht erzählt Geschichten aus den Straßen Stuttgarts. Die tiefen Falten darin verbergen harte Jahre.

Davor hieß ich Hubert, hatte einen Nachnamen. Ein Leben. Eine Wohnung. Und einen Beruf: Kriminalkommissar bei der Mordkommission. Ziemlich erfolgreich. Alles lief gut. Dann lief es nicht mehr so gut. Und dann nur noch der Alkohol. Nun bin ich Berti, wohne mal hier und mal da und verkaufe Straßenzeitungen.

Eine Bewegung am Rande meines Blickfelds reißt mich aus meinen Gedanken. Am Seitenausgang eines am Marktplatz angrenzenden Bürokomplexes passiert etwas Seltsames. Drei Frauen werden von Sicherheitsmännern zügig herausgeschoben, ihre Kleider zerknittert und ihre Schritte unsicher. Eine der Frauen kenne ich: Jasmin, 20, schlank, mit blasser Haut und dunklen Schatten unter den Augen. Stammkundin der Essensausgabe bei der Stuttgarter Tafel. Und ich bin mir nicht sicher, wie sie zu Geld kommt: betteln, Pfandflaschen oder indem sie auf der Straße den vielen Männern nachgibt, die ihr für Sex Geld bieten. Attraktiv genug wäre sie für Letztes. Ihr Blick trifft meinen, bevor sie eilig davonstolpert. Ein Gefühl der Besorgnis macht sich in mir breit, aber ich beschließe, nicht weiter darüber nachzudenken, und mich um meine Angelegenheiten zu kümmern.

Ein paar Wochen später sehe ich sie wieder. In der Passage an einem Kiosk steht sie neben mir.

„Hi“, sage ich und mache auf mich aufmerksam.

„Hallo Berti.“

„Alles ok?“, frage ich und muss dabei an den Moment auf dem Marktplatz zurückdenken. Jasmin nickt, aber ihre Augen füllen sich mit Tränen.

„Brauchst du Hilfe?“, hake ich nach und versuche meinen Arm um sie zu legen.

Jasmins Stimme flattert: „Nein, schon gut. Ich habe einen Fehler gemacht, aber … ich wurde gut dafür bezahlt.“

Ich runzle die Stirn, möchte aber nicht nachfragen. Einen Moment schweigen wir, dann lächelt sie mich an, dreht sich weg und verschwindet.

Ich blicke ihr für einen Augenblick besorgt nach, dann kümmere ich mich wieder um mein eigenes Zeug.

Ein paar Tage später ist Jasmin nicht mehr am Leben. Jemand von der Straße hat es mir gerade erzählt. Ich kann es kaum fassen. Sie wurde ermordet. Erwürgt. Ihr Tod geht mir nahe. In meinem Innern regt sich etwas. Es pocht und kratzt an meinem Verstand und will sich unbedingt mitteilen. Ich horche in mich hinein und muss wieder an den Moment am Marktplatz zurückdenken. Hat ihr Tod etwas damit zu tun?

Die Trauer, die mich überkommt, mischt sich mit Wut und droht meine Brust zu sprengen. Ich setze mich auf eine Bank und denke darüber nach, was Hubert nun tun würde, suche nach Resten des Kommissars in mir.

„Wir wissen nichts“, antworten die beiden anderen Frauen, die mit Jasmin aus dem Bürogebäude gestolpert sind. Ich blicke in ängstliche Gesichter und weiß in dem Moment, dass sie mir nichts erzählen werden. Ohne mich zu verabschieden, drehe ich mich um.

Vor einem Nachtclub im Rotlichtviertel passe ich ihn ab. Einen der Sicherheitsmänner.

„Verschwinde, du Penner!“, sagt er und versucht, mich mit einer Handbewegung zu verscheuchen. Wie eine Fliege.

Ich verschwinde nicht: „Sie ist tot.“

Seine Miene verfinstert sich: „Denkst du, das weiß ich nicht? Ich habe nichts zu sagen“, murmelt er und wendet den Blick ab. Doch sein Zögern verrät mir mehr als seine Worte.

Ich werde deutlicher: „Erwürgt und weggeworfen wie Müll.“ Plötzlich packt er mich am Kragen, hebt mich hoch, sein Gesicht verzerrt vor Wut. „Du hast keine Ahnung, was du da tust“, knurrt er bedrohlich.

Ich halte den Atem an und spüre den Druck seiner Hand um meinen Hals. Doch er sieht etwas in meinen Augen, vielleicht meine Entschlossenheit, und sein Griff lockert sich.

Er lässt von mir ab, dann kommt ein Wort über seine Lippen: „Bachmann.“

„Der Industriemogul?“, frage ich irritiert. Doch ich bekomme keine Antwort. Noch während ich versuche, die Tragweite dieses Namens zu verstehen, verschwindet der Muskelberg in einer Seitengasse.

Ich verkaufe wieder die Trott-war, doch ich kann mich kaum konzentrieren. Ständig wandert mein Blick zu dem Bürogebäude. Was ist da drin passiert?

Ein Mann kommt aus dem Haupteingang die breite Treppe herunter. Ich erstarre, als ich ihn erkenne. Hektor Cordes. Hauptkommissar. Mordkommission. Ich kenne ihn von früher. Er hat sich über die Jahre verändert. Seine rötlich schimmernden Haare sind dünner. Die Schatten unter den Augen dunkler. Aber er hat noch immer denselben unverwechselbaren Gang, der eine besondere Art von Selbstbewusstsein, Rebellentum und Rotzigkeit ausstrahlt.

Für einen Moment bin ich unsicher, ob ich ihn ansprechen soll, immerhin ist es schon ein halbes Leben her. Doch dann gebe ich mir einen Ruck.

„Hektor“, rufe ich, als er fast an mir vorbei ist. Er hebt überrascht den Kopf und kommt auf mich zu. Ich kann fast sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet, während er versucht, die heruntergekommene Gestalt zuzuordnen. Dann erkennt er mich.

„Hubert?“

Mein Magen zieht sich weiter zusammen.

Ich bemerke diesen typischen Gesichtsausdruck, den alle Straßenbewohnenden kennen, wenn ihnen jemand aus dem früheren Leben gegenübersteht. Eine Mischung aus Unverständnis und Mitleid. Doch in Hektors Gesicht ist auch ein Lächeln.

„Lang ist es her“, sagt er, während wir uns die Hände schütteln.

„Ich hätte nicht erwartet…“ Ich unterbreche ihn direkt, weil ich weiß, was er fragen will: „Das ist eine lange Geschichte. Aber im Moment brauche ich deine Hilfe.“

Hektor kramt ein grün verpacktes Eukalyptus-Bonbon aus der Hosentasche, pult es aus dem Papierchen und schiebt es sich in den Mund.

„Um was geht es?“, fragt er schließlich.

„Um Mord“, antworte ich.

In einem Café erzähle ich Hektor alles, was ich über Jasmin weiß. Als ich fertig bin, schaut er mich lange an.

„Sie war schwanger, hast du das gewusst?“, fragt er so, als fiele es ihm gerade erst ein.

Schwanger. Die Information trifft mich wie ein Kinnhaken.

Hektor räuspert sich: “Und du meinst wirklich, Bachmann hat was damit zu tun?”

“Ja”, antworte ich vielleicht eine Spur überzeugter als ich eigentlich bin.

“Gibt es Fingerabdrücke oder DNA-Spuren an ihrem Körper?”

Er schüttelt den Kopf.

„Etwas ist seltsam”, meint er und beugt sich zu mir herüber, “es wurden Spuren von Kokosöl an ihrem Hals gefunden.”

Ich zucke mit den Schultern: “Was ist daran so seltsam?”

“Ausschließlich an ihrem Hals. An keiner anderen Stelle.”

Darüber muss ich nachdenken.

 

Ein paar Tage später treffe ich Hektor wieder.

“Gibt’s was Neues?”

“Bisher nichts”, antwortet er, “aber ich habe morgen einen Termin bei Bachmann. Begleitest du mich?”

“Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist”.

“Und ob das eine gute Idee ist.“ Hektor grinst mich so offen an, dass ich unwillkürlich zurücklächeln muss.

Bachmann ist eine beeindruckende Gestalt, seine schwarzen Haare sind auf eine elegante Weise grau meliert, sein Bart ordentlich gestutzt und in Form gebracht. Selbst frisch geduscht und mit sauberen Kleidern fühle ich mich fehl am Platz. Neben ihm steht sein persönlicher Assistent. Maximilian Vogel. Ein aalglatter Kerl. Viel zu jung für den Nadelstreifenanzug. Als ich ihm die Hand gebe, liegt in seinen Augen eine Arroganz, die ich eher bei Bachmann erwartet hätte.

Wir setzen uns.

Die Vernehmung beginnt.

Ich halte mich zurück und konzentriere mich aufs Beobachten.

Bei Vogel, dem Krawatte tragenden Speichellecker, bemerke ich ein nervöses Augenzucken.

Als ich einen Schluck Wasser trinke, weht mir ein Duft in die Nase, der mich innehalten lässt.

Unauffällig rieche ich an meinen Fingern. Sie duften kaum wahrnehmbar nach Kokosnuss.

Kokosöl – Jasmins Hals – meine Hand. Schlagartig wird mir klar, was das bedeutet. Ich habe Bachmann und Vogel die Hand gegeben.

Ich werfe einen Blick zu Vogel und in dem Moment erkenne ich es in seinen Augen. Er hat Jasmin auf dem Gewissen.

 

Beim Rausgehen laufen wir an dem Arbeitsplatz des Assistenten vorbei. Auf seinem Schreibtisch fällt mir ein weißer Handcremespender auf. Das stilisierte Logo einer Kokosnuss auf der Flasche ist nicht zu übersehen. Für mich ist der Fall klar.

Einen Tag später gesteht der Mörder. Er hat heimlich Sexpartys veranstaltet. Bachmann hat davon nichts gewusst. Von wem Jasmin schwanger war, bleibt weiterhin unklar.

Einige Zeit stehe ich im Rampenlicht. Es erscheint sogar ein Artikel über mich im Newsblog von Trott-war. Von „Straßensheriff“ und „Randstein-Rächer“ ist die Rede. Auf der Straße nennen sie mich zudem den „Asphalt Avenger“. Ich kann nicht anders, als ein trauriges Lächeln zu unterdrücken. Es sind zwar klangvolle Namen, aber das bin nicht ich.

Ich hätte Jasmin helfen, sie beschützen sollen, als sie noch gelebt hat. Sie hätte es verdient, dass jemand für sie eintritt. Ich stehe wieder an der begehrten Stelle auf dem Marktplatz und verkaufe die Trott-war.

Ich werfe einen Blick zum Seiteneingang des Bürogebäudes und beschließe, beim nächsten Mal gleich zu handeln.