Otto war ein einsamer Obdachloser, der sein Lager in einem regengeschützten Winkel nahe einem Mehrfamilienhaus bezogen hatte. Die Bewohner des Hauses wichen seinen Blicken aus und ignorierten ihn, so gut es ging. Manche beschimpften ihn, andere taten, als ob er Luft wäre. Doch Otto hatte keine Angst vor ihnen, im Gegenteil. Die Hausbewohner waren seine heimlichen Beobachtungsobjekte, und nach wenigen Wochen wusste er mehr über sie, als ihnen lieb sein konnte …

Von Niko Mahle

Im dritten Stock lebte ein Ehepaar. Martin und Susanne. Auf den ersten Blick wirkten sie wie frisch verliebt, aber Martin war ein notorischer Frauenheld. Über seine aushäusigen One-Night-Stands konnte Otto noch hinwegsehen, aber die leidenschaftliche Affäre mit Nicole, die in der Wohnung direkt darunter wohnte, machte ihm zunehmend zu schaffen. Meistens trafen sie sich Mittwochabend, wenn Susanne im Yoga war. Otto hatte die beiden mehrfach in eindeutigen Positionen am Fenster gesehen. Ob Martin wirklich wusste, was sein erotisches Geheimnis für seine Ehe bedeuten könnte? Otto sah jedenfalls mit Missfallen, dass der Hallodri einfach nicht damit aufhören konnte.

Anders Nicole: Sie wohnte allein, fühlte sich einsam und von der Welt vernachlässigt. Und sie litt darunter, nur ein Verhältnis für Martin zu sein. Otto hatte sie mehr als einmal nach ihren schnellen Nummern mit Martin weinend in ihrer Wohnung beobachtet. Offensichtlich hegte sie Hoffnungen in Bezug auf Martin, die über den Mittwochabend hinausgingen. Doch Ottos Mitleid hielt sich in Grenzen. Erstens machte sie bei Martins schändlichem Ehebetrug mit, zweitens schenkte auch sie Otto keinerlei Beachtung, und drittens hütete sie ein dunkles Geheimnis. Und das war ein bisschen makaber.

Sie hatte nämlich vor einigen Wochen direkt vor dem Haus, es dämmerte gerade, die kleine Katze der Familie aus dem ersten Stock überfahren. Nach kurzem Zögern war Nicole aus dem Auto gestiegen und hatte sich fluchend das Unglück auf dem Pflaster angesehen. Nachdem sie sich nach allen Seiten vergewissert hatte, dass sie niemand beobachtete, war sie wieder ins Auto gestiegen, und hatte langsam ein paar Meter zurückgesetzt. Dann klaubte sie mit spitzen Fingern den toten Katzenkörper von der Straße, verstaute ihn in einer Plastiktüte im Kofferraum und fuhr davon. Einige Minuten später tauchte sie wieder auf, parkte das Auto und lief mit gesenktem Kopf an Otto vorbei in Richtung Hauseingang. Obwohl der aus seinem windgeschützten Lager alles beobachtet hatte, schenkte sie ihm keinerlei Beachtung. In ihrer Welt voller Kränkungen spielte er keine Rolle, nicht einmal als möglicher Augenzeuge einer Tat, die sie sehr gerne ungeschehen machen würde.

Der elfjährige Carlos, der mit seinen Eltern in der ersten Etage wohnte, litt sehr darunter, dass seine kleine Katze verschwunden war. Carlos` Vater hatte einige Tage nach dem Verschwinden der Katze Zettel an Laternenpfählen in der Nachbarschaft aufgehängt. Natürlich vergeblich, wie Otto wusste. Doch auch sein Mitleid für Carlos hielt sich in Grenzen. Der Junge war eine schlecht erzogene Nervensäge. Außerdem klaute er wie die sprichwörtlichen Raben, wenn man den verzweifelten Diskussionen der Eltern glauben konnte, die aus den geöffneten Fenstern nach draußen drangen. Und nur durch Zufall hatte ihn Otto einmal dabei erwischt, wie der Knabe in seinen Sachen herumgestöbert hatte. Otto war sich sicher, dass Carlos es auf die Pfandflaschen in seinem Einkaufswagen abgesehen hatte. Seitdem nahm er sich vor dem vorlauten Bengel besonders in acht.

Je länger Otto das Verhalten und die Geheimnisse dieser Bewohner beobachtete, desto schlechter behandelten sie ihn. So, als brauchten sie jemanden, den sie für ihre tägliche Mühsal bestrafen könnten. Sie stellten Müllsäcke direkt vor seine Unterkunft, beschwerten sich bei der Hausverwaltung und riefen mehr als einmal die Polizei, um Ottos kargen Hausstand aufzulösen. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Er war ihnen ein Dorn im Auge. Wie Unkraut im Garten. Doch Otto war nicht freiwillig hier, er hatte keine andere Wahl. Das Männerwohnheim war ständig überfüllt, und der beißend kalte Dezemberwind war eine ständige Erinnerung daran, dass das Leben auf der Platte voller Gefahren war. Er konnte es sich nicht leisten, sein Zuhause aufzugeben.

Kurz vor Heiligabend, die Bewohner waren mal wieder ganz besonders abweisend gewesen, fasste Otto einen Entschluss.

Er drehte einige Extrarunden, um mehr Pfandflaschen einzusammeln, und schnorrte sich vor dem nahen Kiosk ein paar Euro zusammen. Dann ging er in einen Schreibwarenladen, und kaufte sich drei Weihnachtskarten. Auf diese Karten schrieb er in kleiner Schrift, was er über die Verwicklungen der drei Kartenempfänger wusste, ohne seine Identität zu verraten. Die Karten enthielten genug subtile Andeutungen und Hinweise, um die Träger der verschiedenen Geheimnisse ins Schwitzen zu bringen.

Dann schlich sich Otto am frühen Abend zum Gebäudeeingang, und warf je eine Karte in den Briefkasten der Bewohner. Er war sich nicht sicher, was er von der Aktion erwarten durfte. Aber er war sich sicher, dass es so nicht weitergehen konnte.

Einen Tag später herrschte in den drei Wohnungen große Aufregung. Es kam zu Geschrei, Türen wurden geschlagen, irgendwo gingen Gläser zu Bruch, und dann war das friedliche Weihnachtsfest gar nicht mehr so friedlich. Es gab hitzige Diskussionen und auch Drohungen auf den Gängen, in der Waschküche und von Fenster zu Fenster.

Susanne, die betrogene Ehefrau, schmiss Martins Sachen auf den schmuddeligen Rasen vor dem Haus und ihn selbst aus der Wohnung. Bei Nicole konnte Martin nicht einziehen, denn sie hatte inzwischen von Susanne von seinen anderen Liebschaften gehört und ein für alle Mal die Nase voll. Zudem hatte Nicole noch andere Probleme. Die Familie aus dem ersten Stock drohte ihr nicht nur mit einer Anzeige wegen Fahrerflucht und Tierquälerei, sondern wollte überhaupt mit einer Ehemann-ausspannenden Katzenmörderin nichts mehr zu tun haben.

Blieb nur noch Carlos: Nachdem seine Eltern von einigen bisher unbemerkten Beutezügen ihres Sohnes erfahren hatten, war der Junge am Tag darauf mit einem blauen Auge aus dem Haus gekommen und ansonsten auch ungewöhnlich kleinlaut unterwegs gewesen.

Ein anonymer Hinweis beim Jugendamt führte dann Tage später dazu, dass Otto eine unbekannte Frau im strengen Hosenanzug bemerkte, die mit vielen Unterlagen unter dem Arm im Haus verschwand, und es eine halbe Stunde später mit Carlos an der Hand wieder verließ.

Dieses besondere Weihnachtsfest sollten die drei Parteien nie mehr vergessen. Die Hausgemeinschaft war zerbrochen, es waren Beschuldigungen und Beleidigungen ausgesprochen worden und das Vertrauen ineinander für immer dahin.

Nach und nach zogen die Bewohner aus, um dem Nachbarschaftskrieg zu entkommen. Sie taten es, ohne sich von Otto zu verabschieden.

Im Frühling zogen die neuen Mieter ein. Neugierig beobachtete Otto freundlich aussehende Menschen, die nach und nach ihre persönlichen Sachen in die Wohnungen brachten.

Die junge Frau, die in den dritten Stock zog, schenkte ihm ein warmes Lächeln, ihr Ehemann sogar eine Brezel.

Auch die neue Familie und die ältere Dame, die ein neues Zuhause gefunden hatten, grüßten ihn so, als würde er zur neuen Gemeinschaft dazugehören.

Otto hatte also ein gutes Gefühl bezüglich seiner neuen Nachbarn.

Und er war optimistisch, dass dies so bleiben würde.

Ansonsten müsste er eben wieder Karten schreiben.