Ausbeutung obdachloser Menschen mit harter Arbeit

Obdachlosigkeit wird meist mit Betteln verbunden, Arbeit ist aber auch in der Lebenswelt draußen ein zentrales Thema – indem Betroffene aus prekären Beschäftigungen auf der Straße landen oder auch als obdachlose Menschen in ausbeuterische Verhältnisse gezogen werden.

Von Daniel Knaus

Anton hat ein offenes Bein, das ihn humpeln lässt und nicht verheilen will. Auf der Straße eine basale Wundhygiene aufrechtzuerhalten, kostet den Enddreißiger viel Kraft. „Nässe kriecht mir nicht nur in die Kleidung, sondern auch in den Verband. Manchmal ersetze ich ihn durch Fetzen alter Kleidung – so sauber wie möglich, aber natürlich entzündet sich die Wunde oft.“ Sie sei auf dem Bau entstanden, wo Anton schwere Lasten getragen habe und nach einigen Wochen in ein Stahlgitter gefallen sei. Der Arbeitgeber habe den Unfall bedauert, allerdings nicht weiter reagiert, als ihn wegzuschicken, als er das Bein nicht mehr belasten konnte. „Nutzlos geworden, ab mit Dir, wir schulden Dir nichts!“ Die ersten Wochen nach der Verletzung seien besonders hart gewesen. Schon während des Arbeitsverhältnisses obdachlos, habe Anton das Übernachten im Freien schon gekannt, nie aber unter solch starken Schmerzen. Beim Schnorren in Fußgängerzonen, von dem er nun leben musste, habe ihm das Fieber zugesetzt. „Wie in der Hölle, schlimme Träume und niemals Ruhe.“ Die üblichen Beschimpfungen mancher Vorübergehender, dass er ein Schmarotzer sei, findet er „verrückt“. Viele würden sich nicht vorstellen können, wie es Menschen aus dem Ausland gehe, die in der Arbeitshierarchie auf der untersten Stufe schuften – und auf der Straße sitzen.

Willkürliche Bezahlung und Drohungen

In einem überdachten Häusereingang suchen drei obdachlose Männer Zuflucht vor schlechtem Wetter. Mit Witzen versuchen sie, sich bei Laune zu halten. Antons Geschichte kommt ihnen gleich bekannt vor – oder geradezu normal. Alle drei, Anfang 40 und schon seit Jahren in Deutschland, berichten von Erlebnissen, die in eine ähnliche Richtung gehen. Pawel von einer Küche, Toma von Verlade- und Gartenarbeiten, Aurel von der Landwirtschaft und ebenfalls vom Bau. Nach mehreren Wintern auf der Straße sei er zwar „langsam kaputt“, aber Anwerber würden ihn immer noch ansprechen. Mittlerweile würde er einfach weglaufen. „Auch noch so hart gearbeitet, weißt Du am Ende nicht, ob Dich der Chef bezahlt. Solche Arbeit ist riskant.“ Pawel schließt sich an, illegalen Arbeitgebern würde er noch weniger vertrauen als legalen. „Du wirst angelogen und kannst nichts dagegen tun.“ Wütend über diese Machtlosigkeit, kommt Toma auf die Gefahr zu sprechen, als rechtloser Arbeitnehmer Gewalt zu erfahren. „Ein Chef schrie mich mal an, mir die Beine zu brechen, wenn ich nicht mit weniger Geld zufrieden bin. Er schubste mich auch herum und ohrfeigte mich, was sollte ich denn dagegen machen?“ Nun leben alle drei vom Schnorren. Aurel sagt, er wünsche sich ein Zimmer, um normal arbeiten zu können. Die beiden anderen nicken.

Angst vor Ausbeutung mit Gesundheitsschäden

Dass es sich bei der Ausbeutung obdachloser Menschen um ein strukturelles Problem handelt, wird durch eine Angst vor Anwerbern deutlich, die auf der Straße oft anzutreffen ist. Wer mit Straßenbewohnenden spricht, wird von ihnen ab und zu erstmal für eine Gefahr gehalten – ein verärgerter Anwohner? Ein Polizist in Zivil? Oder eben ein Anwerber für unangemeldete Arbeit? „Nein, nein, ich kann nicht mehr!“, stöhnt David, Mitte 50, mit aufgerissenen Augen und abwehrenden Handbewegungen, nachdem das Wort „arbeite“ missverständlich bei ihm ankam. Ein an seinem Lager vorbeigehender Student wollte sich ihm mit dem Hinweis vorstellen, dass er einmal in einer Obdachlosenunterkunft „arbeitete“. Nachdem David das Missverständnis einsieht, beginnt er von schlechten Erfahrungen auf dem Straßenbau zu erzählen. Dort habe er eine gesundheitsschädliche Arbeit verrichtet, deutlich unter Mindestlohn bezahlt.

Wenn das Überleben schon alle Kraft kostet

Der beinkranke Anton fühlt sich beim Schnorren unwohl. Die Blicke der Vorübergehenden stören ihn. Eine angemeldete Arbeit zu finden, scheint ihm aber unmöglich, da er ja keinen Wohnsitz vorweisen kann. „So guckt mich keiner als Bewerber an.“ Behaftet mit dem Stigma der Obdachlosigkeit werde niemand eingestellt, einfach weil seriöse Arbeitgeber sich sorgen würden: „Der macht nur Probleme …“ Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“ (1931) kennt Anton nicht, der vom Protagonisten benannte Teufelskreis leuchtet ihm allerdings sofort ein: Keine Wohnung, keine Arbeit – keine Arbeit, keine Wohnung. Und erneut eine unangemeldete Arbeit aufzunehmen, scheint ihm ebenfalls schwierig, auch abgesehen von den beschriebenen Gefahren. Schließlich müsste er zum Arbeitsbeginn frisch und erholt erscheinen – eine manchmal unmögliche Aufgabe für einen kranken obdachlosen Menschen. Was wäre, wenn er nachts von einem Lager vertrieben wird und keine Stunde schlafen kann? Wenn mal wieder seine Sachen geklaut werden, er durch Regen platschnass ist und über keine Wechselwäsche mehr verfügt? Wenn sein Bein wieder anschwillt? „Überleben ist schon eine Vollzeitarbeit.“