Heiligabend habe ich Jesus kennengelernt. Er kam direkt aus dem Schnapsladen und war, wie eigentlich fast immer, sturzbesoffen. Jedenfalls war er gut drauf. War ja schließlich sein Geburtstag heute. Und wenn er gut drauf ist, erzählt er Geschichten von damals. Damals, in Südafrika …
Von Burkhard Sonntag
„Damals, da hatte ich alles. Ein Haus, ein Mädel und einen Job.“ Jetzt hat er nur noch Fido. Fido Fleataxi, seinen Schäferhund-Mischling. Mit dem zusammen tingelt er durch London, schläft unter Brücken und in Einkaufspassagen, schnorrt sich ein wenig Geld zusammen, und wenn er genug zusammen hat, dann investiert er es in Cider und billigen Fusel.
„Damals, da hab ich auf einer Farm gearbeitet und 50 Schwarze kommandiert. Und hatte ein Mädel, deren Vater war Oberst in der Armee. Einmal hab ich mit dem ‘ne ganze Nacht lang durchgesoffen, und irgendwann, so gegen vier Uhr früh, fragt der mich dann: ‚Warum kommst Du nicht zu uns?‘ Na ja, ich brauchte dringend Geld, also hab ich halt zugesagt.“
Jesus streichelt den Hund und starrt ins Kaminfeuer.
„Wir hatten beide schon eine Menge Bier und Whiskey getrunken. Irgendwie hab ich das alles nicht so richtig ernst genommen. Aber … wie gesagt, ich brauchte das Geld. Also, am Morgen weckt der Oberst mich dann in aller Frühe auf, und pünktlich um neun standen wir im Anwerbebüro. Eine Unterschrift, ein paar Formalien und wenige Tage drauf ging’s auch schon los. Drei Monate Ausbildung als Fallschirmspringer, und kurz darauf gleich der erste Einsatz. Nach Namibia. Ich war Aufklärer. Wurde über die Grenze nach Angola geflogen und musste dort Swapo-Stellungen auskundschaften. Da haben wir kleine schwarze Kreuze auf der Landkarte gemacht!“
Er schaut auf.
„Wirklich, nur kleine schwarze Kreuze auf der Landkarte. Sonst nichts. Bomben und Raketen, das war nicht mein Job. Hatte ich nix mit zu tun. Haben andere besorgt. Aber ein paar Tage später kamen die Flüchtlinge. Einmal, da war eine Frau dabei, die trug ein verdrecktes schwarzes Bündel.“
Seine Augen sind wässerig. Wahrscheinlich liegts am Alkohol.
„Ich schau noch mal hin und seh, es ist ein Kind, das hatte ganz hässliche Brandnarben überall, sowas hab ich noch nie gesehen. Wahrscheinlich ist’s krepiert. War vielleicht sogar besser so. Das Kleine hatte keine Chance.“
Drei Wochen lang hat er das mitgemacht, länger nicht. Dann hat er sich mit einem Vorgesetzten angelegt.
„Erst haben sie mich halbtot geprügelt. Und dann, dann haben sie mir ganz leise gesagt: ‚Wir machen Dich alle.‘“
Also ist er untergetaucht. Gesoffen hat er immer schon, aber jetzt hat er angefangen, alles mögliche zu nehmen: Cannabis, Koks, Mandrax und Amphetamine, was immer er sich leisten konnte. Ein paar Mal auch Heroin, aber gedrückt hat er nie. Irgendwie ist er dann nach Europa gekommen, zunächst nach Amsterdam, dann England. Auch hier hat er schon Scherereien mit der Polizei gehabt.
Er erzählt viel und widerspricht sich oft. Mal Gefängnis, mal Entzug, mal Psychiatrie. Die Variationen seiner Geschichte ändern sich. Irgendwann hat er nämlich angefangen, Stimmen zu hören. Zum Beispiel die von dem kleinen Kind in Namibia.
Und jetzt braucht er unbedingt eine Dosis Schnaps. Ohne die kann er nämlich nicht schlafen. Schlafen, ohne zu träumen, denn Träume sind die Hölle.
„Haste ‚n bisschen Kleingeld übrig?“, fragt er.
Ich krame in meiner Hosentasche und finde einen zerknitterten Fünfpfundschein.
Frohe Weihnachten, Jesus! Ist ja schließlich Dein Geburtstag.
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