Früher Feierabend in der Großstadt, wenige Tage vor Weihnachten. Die S-Bahn hält am Bahnsteig, Türen gehen auf, Menschen in Bürokleidung und Menschen mit grellbunten Shoppingtüten drängen hinein und in Richtung Sitzplätze. Auch ich steige ein, froh, dem nasskalten Nieselregen zu entkommen. Da mich das Gedränge nervt, und da sowieso keine Sitzplätze mehr frei sind, bleibe ich in der Nähe der Tür stehen …
Von Rita Schwarz
Sofort zieht ein Mann im roten Muscle-Shirt meine Aufmerksamkeit auf sich. Er trägt keine Jacke, mitten im Dezember. Seine baumdicken Oberarme sind mit Tätowierungen bedeckt, auf dem Kopf trägt er ein schwarz glänzendes, enganliegendes Tuch. Er könnte Bodybuilder sein, Pirat oder Gangster-Rapper.
Wenn da nicht der Rollstuhl wäre und seine winzigen Füße und Beine, die in Schuhen und schwarzen Hosen stecken, die einem Grundschulkind passen würden. Der Anblick ist absurd. Als ich merke, dass ich ihn anstarre, wende ich schnell den Blick ab und hoffe, dass er mein Glotzen nicht bemerkt hat. Aber er schaut nicht in meine Richtung, sondern blickt vor sich hin.
An der nächsten Station steigen zwei Jugendliche in dunklen Hoodies und löchrigen Jeans ein. Sie mustern den Rollstuhlfahrer schweigend, stecken dann die ausrasierten Köpfe zusammen und unterhalten sich gedämpft in einer mir unverständlichen Sprache. Aus ihrem unterdrückten Lachen und den halb mitleidigen, halb boshaften Blicken entnehme ich, dass ihre Kommentare nicht unbedingt freundlich sind.
Die dunklen Augen des Muskelmannes blicken unverändert gleichmütig, als würde er das Lachen nicht hören.
Ich schäme mich und schaue aus dem Fenster. Wäre ich die Mama dieser Jungs, würde ich ihnen eine Standpauke halten. Aber ich bin nicht ihre Mama.
Die Bahn nähert sich dem nächsten Halt. Das Kichern der Jungs wird lauter. Ich bin genervt und bekomme Kopfschmerzen vor lauter Wut.
Plötzlich springt der Tätowierte aus seinem Rollstuhl und landet unsanft auf seinem kleinen Hintern.
Ich reiße die Augen auf. Was tut er da? Und warum? War das Absicht? Eine Art Wutanfall, wegen der beiden Jungs?
Die Bahn hält. Sein Gesichtsausdruck ist völlig unbeteiligt. Er packt den Rollstuhl mit seinen Riesenpranken und klappt ihn mit einer einzigen schnellen Bewegung zusammen.
Die Türen der Bahn öffnen sich.
Menschen draußen auf dem Bahnsteig steuern auf die Tür zu, Bürokleidung, bunte Shoppingtüten.
Der Mann hebt das zusammengeklappte Gefährt in die Luft, als wäre es aus Pappe, und holt aus. Bedrohlich spannt sich das Shirt über seinen mächtigen Muskeln.
Ich bin starr vor Schreck. Was hat er vor?
Der Rapper wirft den Rollstuhl aus der Tür, mitten in die Menge, die erschrocken auseinanderstrebt.
Verunsichert schauen ihn die Leute an. Sie scheinen zu überlegen, ob sie wirklich einsteigen sollen. Zu einer offenbar randalierenden Person, die untenrum wie ein Kind aussieht, aber obenrum wie ein gefährlicher Knastbruder.
Ich frage mich, ob der Mann verrückt ist. Oder auf Drogen? Gibt es irgendwo eine versteckte Kamera? Handelt es sich um eine Art Experiment? Will er uns testen? Erwartet er etwas von uns? Gleich fährt die Bahn weiter, und was will er bitte schön anfangen, ohne seinen Rollstuhl? Wie kommt er nach Hause? Kurz habe ich den Impuls, hinaus auf den Bahnsteig zu rennen, ihm seinen Stuhl zurückzubringen.
Da macht der Tätowierte einen Handstand. Geht auf den Händen durch die Tür nach draußen, genauso mühelos, wie andere ihre Beine und Füße benutzen. Lässt sich exakt vor seinem Rollstuhl auf dem Bahnsteig nieder, klappt diesen mit einer einzigen, fließenden Bewegung auseinander, springt hinein und rollt zügig von Dannen.
Die Menschen auf dem Bahnsteig weichen zurück, starren ihn an, als hätten sie eine Erscheinung.
Auch ich kann es nicht fassen. Ich schlucke und schließe meinen Mund. Etwas kitzelt irgendwo in meinem Zwerchfell.
Mein Blick fällt auf die beiden Jungs, die dem Mann nachschauen, wie er in der Menschenmenge verschwindet.
Der eine dreht sich strahlend zu seinem Kumpel um. Seine Augen leuchten vor Bewunderung. Der andere schüttelt mit offenem Mund den Kopf. Dann schauen sie mich an.
Wir brechen in übermütiges Gelächter aus.
Wäre ich die Mama dieser Jungs, würde ich sie fragen, ob sie sich Hanteln zu Weihnachten wünschen.
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