Tagung zur historischen und gegenwärtigen Obdachlosigkeit

Ausgegrenzt seit Jahrhunderten

Seit 1975 setzt sich Prof. Dr. Andreas Strunk für eine bessere Betreuung von Wohnungslosen und anderen sozial benachteiligten Menschen ein. Er war Gründungsvorsitzender der „Ambulanten Hilfe“ in Stuttgart, die schon ab Mitte der 70er Jahre einen Ansatz verfolgte, der heute unter dem Titel „Housing First“ als geniale neue Idee aus den USA verkauft wird, leitete mehrere Obdachlosenheime, krempelte die Obdachlosenunterstützung der Landeshauptstadt und einiger anderer Städte um und prägte als Dozent die Ausbildung mehrerer Generationen von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Im Laufe dieser langjährigen Tätigkeit sammelte sich einiges an Dokumenten an, die Strunk dem Stadtarchiv Stuttgart als Vorlass übergab. Das bedankte sich am 13. Oktober mit einer Tagung über „Obdachlosigkeit in historischer und aktueller Perspektive“.

Von Nico Nissen

Den ersten Vortrag hielt der an der Universität Mannheim tätige Historiker Prof. Dr. Martin Dinges. Er bot einen Überblick über die Lage der „Nichtsesshaften in der Frühen Neuzeit“ – „Nichtsesshafte“ daher, weil Obdachlose in der Frühen Neuzeit (der Epoche von 1500 bis 1800) nicht als solche bezeichnet und in den Quellen erfasst worden seien. Zudem sei die grundsätzliche Schwierigkeit, dass diese Gruppe fast nur bei Konflikten mit der Obrigkeit in den Quellen auftauche, meist den Polizei- und Justizakten. So sei Betteln nur mit einer Genehmigung der jeweiligen Obrigkeit, dem sogenannten Bettelbrief, gestattet gewesen, und die habe solche nur den ortsansässigen Bedürftigen ausgestellt, nicht den geschätzt acht bis zehn Prozent der Bevölkerung, die auf der Suche nach Arbeit, Obdach oder einfach nur Nahrung umherzogen. Dies seien hauptsächlich Soldaten, Handwerker, Tagelöhner und Bettler, „Zigeuner“ (so der Begriff in den Quellen) sowie Angehörige der „unehrlichen Berufe“, zum Beispiel Gaukler und Schauspieler, gewesen. Nichtsesshafte Juden hätten zudem oft einem Ansiedlungsverbot unterlegen und nicht auf die Solidarität ihrer sesshaften Glaubensgenossen vertrauen können, die sie oft nicht weniger verachtet hätten als deren christliche Mitbürger. Nennenswerte Integrationsmöglichkeiten habe es lediglich – und abhängig vom Bedarf nach Arbeitskräften – für Handwerker, Krämer, Tagelöhner und Künstler gegeben.

Alle Nichtsesshaften hätten von der Hand in den Mund gelebt und seien oft aus existenzieller Not in die Kriminalität abgeglitten, sodass sie bald vor einer Strafverfolgung hätten fliehen müssen, wodurch sich ihr Wanderleben verstetigt habe. Andernfalls hätten schmerzhafte Leibesstrafen gedroht, die sichtbare Narben hinterlassen, die Betroffenen dauerhaft stigmatisiert und ihre Integration in die Gesellschaft erschwert hätten. Das sogenannte „Verschieben“ der Nichtsesshaften in ihre Heimatorte, deren Behörden nach damaliger Rechtsauffassung für sie verantwortlich gewesen seien, sei oft gescheitert, und auch die Einweisung in Zucht- oder Arbeitshäuser habe nicht wesentlich dazu beigetragen, das Vagabundieren zu beseitigen. Nur die Spitäler und christliche Überzeugungen hätten etwas die Not gelindert. Hilfsleistungen der Obrigkeit wären dagegen auf den Kreis der vermeintlich Richtigen beschränkt worden, zum Beispiel ortsansässige verwitwete Mütter.

Trotz aller Unterschiede zwischen den Nichtsesshaften der Frühen Neuzeit und Obdachlosen der Gegenwart sieht Dinges insofern eine Ähnlichkeit, dass auch heute von neoliberalen Kreisen gefordert werde, Hilfe nur den vermeintlich Richtigen zukommen zu lassen.

Zunehmendes Problembewusstsein im 19. Jahrhundert

Der folgende Vortrag von Dr. Beate Althammer von der Humboldt-Universität Berlin schloss sowohl chronologisch als auch thematisch lückenlos an. Anhand mehrerer Fallbeispiele, die Polizei- und Gerichtsakten entnommen waren, konnte sie den Wandel veranschaulichen, der sich während des 19. Jahrhunderts in der von zeitgenössischen Intellektuellen sogenannten „Vagabundenfrage“ vollzog. Geprägt durch die Revolutionserfahrungen der Zeit habe man nichtsesshafte, arbeitslose und verarmte Teile der Bevölkerung mit sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen in Zusammenhang gebracht. Hier habe die moderne Sozialpolitik ihren Ursprung: Städte hätten begonnen, Wohnraum zu schaffen und Obdachlosenunterkünfte einzurichten, und sogar auf Reichsebene habe es mit den von Otto von Bismarck vorangetriebenen Sozialversicherungen wegweisende Reformen gegeben. Ziel sei gewesen, auch die unter Armut leidenden Teile der Bevölkerung zu loyalen Mitbürgern zu machen. Zudem hätten sich karitative, in erster Linie christliche Vereine an der Versorgung der Obdachlosen und Vagabunden beteiligt. Sowohl Staat als auch Zivilgesellschaft hätten also zunehmend fürsorgend gewirkt. Während des 19. Jahrhunderts lasse sich eine „stillschweigende Entkriminalisierung“ des Vagabundierens feststellen, da das Verständnis für seine Ursachen gewachsen war.

Die nächste Veranstaltung wurde von Andreas Strunk halb als Vortrag, halb als Podiumsdiskussion gestaltet. Gäste waren sein Kollege Prof. Dr. Michael Monzer und der erste „Fall“, den die Ambulante Hilfe Stuttgart betreute, der damalige Wohnungslose und Alkoholsüchtige Peter K. 1975 habe er Strunk überhaupt erst den Anstoß gegeben, die Ambulante Hilfe zu gründen, da er mit seiner Frau keine gemeinsame Unterkunft habe finden können und das Ehepaar jedes Mal, wenn es in einer der Obdachlosenunterkünfte der Stadt habe untergebracht werden wollen, auseinandergerissen worden sei. Das grundlegend Neue der Ambulanten Hilfe sei laut Strunk jedoch gewesen, dass sie als Nachfrager in den Wohnungsmarkt eingestiegen sei.

Früher Unrecht, heute kein Recht ohne Kläger

In der folgenden, vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Diakonie Dieter Kaufmann moderierten Podiumsdiskussion über „Obdachlosenhilfe in der Gegenwart“ sprachen frühe Mitstreiter Strunks über die damalige Lage der Obdachlosen und die Betreuungsstrukturen in Stuttgart. Einen besonderen Schwerpunkt bildete dabei der politische Gegenwind, der den Sozialarbeitern und Hilfsorganisationen in der Landeshauptstadt entgegenblies. Höhepunkt war dabei eine fünfjährige juristische Auseinandersetzung zwischen der Stadt und ihren Obdachlosen über die Frage, ob ihnen die Unterstützungsleistungen ausschließlich in Sachleistungen hätten gegeben werden dürfen, was damals üblich war, oder ihnen grundsätzlich Geld hätte gegeben werden müssen. Sie endete mit einem Sieg der Obdachlosen, die sich von der Stadt nicht durch „Carepakete“ bevormunden lassen wollten. Grundsätzlich gebessert habe sich das Gebaren von Politik und Verwaltung jedoch nicht: Der Geschäftsführer der Ambulanten Hilfe Michael Knecht beklagte, dass seit Hartz IV immer wieder gegen klares Recht verstoßen werde. Das ab kommendem Jahr geltende „Bürgergeld“ gehe aus Sicht der Diskussionsteilnehmer dagegen in die richtige Richtung: Die Verwaltung würde den Betroffenen damit mehr auf Augenhöhe begegnen und ihnen weniger mit Sanktionen drohen können. Doch seien die Leistungen nach wie vor zu gering bemessen.

Besonders kritisierte Strunk, dass der damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel als Präsident des Deutschen Städtetages (erstmals 1977 bis 1979) die Gelegenheit nicht genutzt habe, die Obdachlosenhilfe auf bewährte Konzepte zu vereinheitlichen – womit zweifellos auch das der Ambulanten Hilfe gemeint ist, die schon rund vierzig Jahre „Housing First“ praktizierte, als es in Deutschland ein Begriff wurde. Derzeit fördert die Stadt Stuttgart mehrere „Pilotprojekte“, die den Housing-First-Ansatz verfolgen – offenbar ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass dieses Konzept nur leicht anders unter dem Namen „Ambulante Hilfe“ in Stuttgart erfunden wurde und bereits seit Jahrzehnten praktiziert wird.