Wie Werkzeuge oder Essen können wir auch Wissen teilen. Das tun wir alltäglich im Gespräch, mit schweren Taschen an öffentlichen Bücherregalen und gesellschaftlich zum Beispiel in Bibliotheken. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach sammelt Wissen besonders systematisch und teilt seine Schätze in Ausstellungen – zunehmend interaktiv, weil doch schließlich Besuchende den Artefakten ihre Bedeutung geben. Im Interview mit Daniel Knaus erzählen Katharina J. Schneider und Verena Staack, warum sich ein Besuch lohnt.

 

Was ist das Deutsche Literaturarchiv eigentlich genau?

In Marbach am Neckar, dem Geburtsort von Friedrich Schiller, steht das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA), eine der bedeutendsten Literaturinstitutionen weltweit. Hier werden kostbare Quellen der Geistesgeschichte aufbewahrt, von 1750 bis heute. Genauer sind das ungefähr 1.600 Nachlässe und Sammlungen von Schriftsteller:innen und sogar Verlagsarchive. Die Bibliothek des DLA ist die größte Spezialsammlung zur neueren deutschen Literatur und umfasst über 1,5 Millionen Medieneinheiten, darunter Bücher, Zeitschriften, Ton- und Bildträger.

 

Zum DLA gehören auch zwei Museen. Was gibt es dort zu sehen?

In unseren beiden Museen, dem Schiller-Nationalmuseum (SNM) und dem Literaturmuseum der Moderne (LiMo), werden die Objekte des DLA einem großen Publikum zugänglich gemacht. Im 1903 erbauten SNM werden die Bestände und Autoren gezeigt, die am Ausgangspunkt der Marbacher Sammlung standen: Friedrich Schiller und andere schwäbische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Dieses Museum ist momentan geschlossen, denn wir erarbeiten gerade ein neues Ausstellungskonzept. Im LiMo, das 2006 eröffnet wurde, steht dagegen keine bestimmte literarische Strömung im Zentrum, sondern die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Dort zeigen wir die Dauerausstellung „Die Seele 2“ – eine Schausammlung zum 20. Jahrhundert mit über 180 Exponaten.

 

Schillers Locken und Kafkas Abiturzeugnis

 

Worum geht es in Ihren Ausstellungen?

Im Mittelpunkt stehen diese Fragen: Warum Literatur im Archiv erfahren? Wie wird sie für uns alle zugänglich? Welche Bilder von „Literatur“ und „Welt“ sind mit diesem Archiv der Literatur verbunden? Die Schausammlung wird durch zwei digitale Präsentationsformen erweitert: An interaktiven Tischen können die Besucher:innen mithilfe von Projektionen unterschiedliche Bewegungen des Beschreibens und der Textentstehung selbst erleben. Und die App „literaturbewegen“ macht auch schwierige Handschriften lesbar, zeigt mehr von ihnen und erzählt ihre Geschichte.

 

Was sehen Besuchende in Ihren Museen beispielsweise?

In unseren Ausstellungen kann man ganz unterschiedliche Objekte sehen: Schillers Locken und Dramenfragmente, Franz Kafkas Abiturzeugnis und Liebesbriefe, Hermann Hesses Fotoalben und Romanmanuskripte, Herta Müllers Collagenpostkarten – also Entstehungszeugnisse und Erinnerungsstücke. Diese Stücke werden hier nicht nur gezeigt, sondern auch in Führungen, Workshops und Projekten vermittelt. Kafkas Manuskript zu seinem Roman „Der Process“ ist ein besonderer Schatz. Notizbücher jeder Art sind toll, weil man an den spontanen Notizen manchmal erste Ideen erkennen kann, die später vielleicht in einem Roman oder Gedicht aufgehen oder wieder auftauchen. Und dann gibt es natürlich Objekte, die auf den ersten Blick komisch sind: Schillers Socken, Hilde Domins Shampooflasche oder Robert Gernhardts Stachelschweinborsten. Wer hätte die hier vermutet?!

 

Was ist das „Literaturmuseum der Zukunft“?

Ein Kulturprojekt mit Zukunft im Blick, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien: Wir überlegen, was für eine Rolle das Literaturmuseum im Jahr 2025 spielen soll. Wir überlegen, wer ins Museum geht und wer nicht. Wir überlegen, welche Themen oder welche Personen im Literaturmuseum fehlen und warum sie (bisher) fehlen. Wir überlegen, welchen Stellenwert Literatur in der Gesellschaft hat – und wir suchen gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Menschen und Gruppen in Projekten, Veranstaltungen und Workshops nach Antworten auf diese Fragen. Wir verstehen das Literaturmuseum der Zukunft als ein Museum für möglichst viele Menschen: es soll in vielerlei Hinsicht leicht zugänglich sein, Schranken und Barrieren abbauen.

 

Neuer Zugang zur Literatur für alle

 

Warum soll Literatur alle etwas angehen?

Wir glauben, dass jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen hat – und dass es ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist, sich mitteilen zu wollen. Trott-war, die von dort initiierten Schreib- und Theaterprojekte und auch der Straßen-Mitmach-Account bei Instagram @Stuttgart_von_unten sind ein gutes Beispiel dafür. Indem wir anderen zuhören oder von ihnen lesen, erfahren wir neue Perspektiven auf die Welt, auf Fragen des Lebens und vielleicht auch auf uns selbst. Wichtig ist der persönliche Zugang: Welches Objekt spricht mich spontan an und warum? Was hat diese Geschichte mit mir zu tun? Was irritiert mich, was gefällt mir? Fragen an ein Objekt sind immer ein guter Start, um damit in „Kontakt“ zu kommen: Warum ist das Objekt so, wie es ist? Warum steht da dieses Wort? Das sind Fragen, die auch ohne Vorwissen funktionieren, die spontan entstehen und von denen ausgehend man ins Gespräch kommen kann.

 

Wie vermitteln Sie Literatur möglichst niedrigschwellig?

Wir möchten auch Gruppen ansprechen, die bisher noch nicht oder nicht mehr ins Museum gehen (können): das sind die Senior:innen des benachbarten Altersheims ebenso wie blinde oder gehörlose Menschen – oder auch Personen, die beispielsweise Führungen in leichter/einfacher Sprache oder überhaupt in anderen Sprachen als Deutsch bevorzugen. Für diese Gruppen gibt es nicht nur auf sie abgestimmte Führungen, sondern auch Projekte aller Art. Dieses Jahr haben wir ein Projekt durchgeführt, in dem Realschülerinnen und -schüler aus Marbach sich zusammen mit einem Seniorenkreis aus Ludwigsburg dem Thema Freundschaft gewidmet haben; der Ausgangspunkt war Schillers Ballade „Die Bürgschaft“.

 

Wer oder was fehlt in Ihren Museen bisher?

So viel ein Museum auch zu bieten hat, es gibt immer Themen, Aspekte und Personengruppen, die nicht oder nicht ausreichend vertreten sind. Generell ist beispielsweise Literatur von Frauen unterrepräsentiert, genauso wie Nachlässe von Schriftstellerinnen in Archiv und Sammlungen; das zeigt sich auch in den Ausstellungen immer wieder. Man kann aber versuchen, diese Leerstellen zu füllen oder zumindest über sie zu sprechen und auch darüber, warum es sie gibt. Der Umgang mit und die Reflexion über solche Leerstellen ist eine wichtige Aufgabe von Museen.