Wo die Liebe hinfällt
Wenn Liebe und Treue nicht mehr Exklusivität bedeuten, spricht man von Polyamorie. Doch ist es wirklich möglich, sich in mehrere Personen zu verlieben? Wie die Vielliebe funktioniert – und was wir davon lernen können.
Von Kirsten Stumpe
Polyamorie setzt sich aus dem griechischen Wort polýs (viele) und dem lateinischen Wort amor (Liebe) zusammen. Die Übersetzung „viele lieben“ ist damit im Grunde selbsterklärend. Denn Polyamorie bedeutet im Vergleich zur Monogamie, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben – nicht nur auf sexueller Ebene, sondern mit dem Herzen. Der Duden definiert den Begriff als eine langfristige Partnerschaft aus Liebe, die von mehr als zwei Personen in Einvernehmlichkeit geführt wird.
Polyamor lebende Menschen werden in der Gesellschaft mit vielen Vorurteilen konfrontiert, denn ihre Lebensweise entspricht nicht dem von der Gesellschaft festgelegten Ideal der Monogamie. In „normalen“ Beziehungen werden Exklusivität und Treue als ein Beweis der Liebe gegenüber der Partnerin oder dem Partner gesehen. Das Verlieben in andere Menschen wird damit assoziiert, dass in der eigentlichen Partnerschaft etwas gehörig schiefläuft. Von der betreffenden Person wird dann erwartet, sich entweder für die bestehende Beziehung zu entscheiden oder diese zu beenden, um eine neue Beziehung zu beginnen. Bei Polyamorie kommt die neue Partnerschaft einfach dazu. Der Begriff „Treue“ wird mehr als emotionale Beziehung und Verbindlichkeit gesehen, ehrlich zueinander zu sein und vereinbarte Grenzen einzuhalten. Sexuelle Treue gibt es nicht.
Absprachen und Wünsche werden zwischen den Paaren individuell festgelegt. Im Unterschied zum Seitensprung in einer monogamen Beziehung geht es bei der Polyamorie darum, in gegenseitigem Einvernehmen zu handeln. Dabei sind Punkte wie Offenheit und Ehrlichkeit, viel Reden und das Ziehen und Einhalten von Grenzen wichtig für eine funktionierende Beziehung. Das sollte bestenfalls aber auch in monogamen Beziehungen der Fall sein.
Liebe vor Sexualität
Häufig wird Polyamorie mit Polygamie oder einer offenen Beziehung verglichen. Alle drei stellen eine Beziehung mit mehreren Partner/innen dar. Im Unterschied beschreibt Polygamie die Vielehe, die im Westen Europas verboten ist, während es bei Polyamorie um einvernehmliche Liebe geht. Und während bei einer offenen Beziehung nur die gegenseitige sexuelle Freiheit gegeben ist, die Liebe jedoch exklusiv bleibt, ist es bei Polyamorie möglich, sich in mehrere Menschen zu verlieben. Dabei steht nicht die Sexualität im Vordergrund, sondern langfristige Verbindungen.
Grundsätzlich kann Polyamorie zwischen Menschen jeglichen Geschlechts stattfinden. Oft ist ein Grund, die Beziehung polyamorös zu öffnen, Beziehungen mit mehreren Geschlechtern eingehen zu können. In den meisten Fällen sind die Beziehungen aller Personen gleichberechtigt. Manchmal kommt es jedoch vor, dass eine Hauptbeziehung gegenüber Nebenbeziehungen Priorität hat. Auch kann, aber muss nicht, jeder jeden lieben. In manchen Fällen hat eine Person eine monogame Beziehung mit der anderen, während die polyamore Verbindungen zu anderen hat. Bei einer Triade lieben sich alle Partner/innen gegenseitig. Die V-Beziehung stellt eine Beziehung einer Person zu zwei anderen Personen dar, die gegenseitig keine romantische Verbindung miteinander haben. Zuletzt gibt es die Kettenkonstellation, bei der jeweils eine Person eine intime Beziehung zu einer oder zwei weiteren ausübt, die ebenfalls weitere Beziehungen führen.
Nicht zwingend muss bei Polyamorie eine Beziehung mit mehr als zwei Personen gelebt werden. Es geht allein um die Möglichkeit, Gefühle für mehrere Menschen haben zu dürfen.
In der Geschichte der Menschheit gab es schon immer nichtmonogame Verhältnisse. Lange galt Polygamie als dominierendes Beziehungsmodell. Erst durch die Entstehung der christlichen Kirche entstand das Konzept der ein Leben lang anhaltenden monogamen Ehe und sexuellen Treue. Mit der Entwicklung der „bürgerlichen Kleinfamilie“ Ende des 18. Jahrhunderts wurde das exklusive Beziehungsmodell zwischen zwei Menschen zur Norm. Der Begriff Polyamorie entstand in den 60er Jahren aus der „Freie Liebe“-Bewegung und mit der „sexuellen Revolution“, die zum Beispiel von Hippies gelebt wurde. Dabei ging es jedoch vermehrt um Ausbruch, das Ausleben sexueller Freiheit, und weniger um Liebe.
Wieso reicht eine Beziehung nicht aus?
Heutzutage entstehen polyamoröse Bindungen aus einer monogamen Lebensweise mit einem „versehentlichen Verlieben“ heraus, und nicht, weil die Personen es explizit gewollt oder danach gesucht hätten. Denn: Menschen sind aus wissenschaftlicher Sicht in der Lage, mehrere Menschen auf romantischer Basis zu lieben. So ist es ja auch nicht unüblich, mehrere Freundschaften zu pflegen oder seine Kinder gleichermaßen lieb zu haben.
Die Beschränkung auf eine Person entspringt daraus, dass Monogamie von klein auf auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene als einzig richtiges Beziehungsmodell wahrgenommen und beigebracht wird. Deshalb berichten viele polyamorös lebende Menschen von anfänglichen Selbstzweifeln und der Frage, warum sie nicht in der Lage wären, sich auf eine Person einzulassen. Einige spielten mit dem Gedanken, ihre aktuelle Beziehung zu beenden, und sahen den polyamorösen Weg als eine Möglichkeit, die bestehende Liebe nicht einfach aufzugeben.
Natürlich sollte Polyamorie nicht krampfhaft umgesetzt werden, nur um den anderen Teil glücklich zu machen. Es ist daher besonders wichtig, Anliegen und Empfindungen zu kommunizieren, damit sich niemand unwohl oder vernachlässigt fühlt. Eifersucht spielt – wenn vielleicht anders vermutet – auch in polyamorösen Beziehungen eine Rolle. Aber der Umgang damit ist entscheidend.
Es zeigt sich also, dass sich Menschen nicht immer aktiv für eine bestimmte Lebens- und Liebesform entscheiden. Liebe lässt sich nicht planen. Es sollte jedem selbst überlassen werden, welche Beziehungsform er oder sie wählt, sofern alle Beteiligten damit einverstanden und zufrieden sind. Nicht für jeden ist Polyamorie der richtige Weg. Niemand sollte jedoch aufgrund seiner Art zu lieben, kritisiert oder angegriffen werden. Etwas mehr Akzeptanz und Toleranz täten sicherlich allen gut. Liebe ist einzigartig, so wie auch jeder Mensch einzigartig ist. Und letztendlich sind Kommunikation und Vertrauen der Schlüssel zu einer glücklichen Beziehung, egal ob monogam oder polyamorös.
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