Bild von Johanna Johnston

Ich fühle keine Heimatliebe. Vielleicht liegt es daran, das Heimat sich auf einen gewissen Ort bezieht.
Auf einen Ort auf der Erdoberfläche, auf der die Tierart Mensch lebt, und auf dem ich zufällig und ungefragt geboren wurde. Auf einen Ort in dem meine Muttersprache gesprochen wird. Einen Ort wie Deutschland.

Von Chris Unger

Deutschland. Dieses Wort geht mir von den Lippen wie Teer von einer Straßenbaumaschine. Schwerlich bewegt es sich über meine Zunge in die Peripherie meines Kopfes und ich kann mich selbst dieses Wort sprechen hören und in der akustischen Eigenwahrnehmung wird mir stets übel, weswegen ich so lange unfähig war, hierüber zu schreiben.

Deutschland. Ein Staat wie all die Staaten, von denen ich denke, sie sollten nicht existieren. Blutige Resultate unserer Menschheitsgeschichte, die wir weder richtig aufgeschrieben noch verarbeitet haben, ebenso blutig umrandet mit Grenzen, welche gerne mit Stiften über Karten gezogen wurden wie beim Sykes-Picot Abkommen.

König*innen und Kaiser*innen wie Wilhelm II haben beansprucht, geltend gemacht, kolonialisiert und terrorisiert, um Staaten aufrecht zu erhalten. Aus der Vogelperspektive betrachtet, haben wir einen kugelrunden Sandkasten voller erwachsener Kinder, deren kleiner Teil Geld und Waffen hat, und deren Großteil verhungert und verängstigt ums Überleben kämpft.

Und jetzt gibt es ganz besondere erwachsene Kinder. Erwachsene Kinder, die meinen, dass das so zu laufen hat, und dass die im sogenannten globalen Süden halt schauen sollen, dass sie sich selbst so ein tolles Land wie Deutschland aufbauen.

So als hätten sich diese erwachsenen Kinder vor der Geburt rausgesucht, dass sie in Deutschland geboren werden. So als wäre Deutschland völlig unabhängig von Kolonialisierung und Ausbeutung so reich geworden und mit so einem Wohlstand gesegnet, den es jetzt vor Migrant*innen zu verteidigen gilt, welche rechtens ein Stück vom Kuchen wollen, welcher ihren Großeltern genommen wurde.

Doch was steckt hinter dem Geld, was erklingt hinter dem frequenten Dröhnen der Maschinen in den waffenproduzierenden Schichtbetrieben? Was steht zwischen den Zeilen der Reihenhauswände, in denen mit Dosenbier und Bildzeitung den alten Werten gehuldigt wird, und der Stahlhelm in der Glasvitrine steht?

Leere. Innere brennende Leere, die zornig und hasserfüllt werden lässt. Ein geistiges Loch, dessen Umrandung wie eine umgedrehte Pickelhaube ist; und in der enthaltenen Luftfülle sollte etwas wichtiges sein, was den Nazis fehlt: Emotionale Bildung. Empathie. Aufgeklärte Nächstenliebe. Und die Abwesenheit eben dieser grundlegend wichtigen geistig/emotionalen Ressourcen macht sie hasserfüllt und lässt sie versuchen, das klaffende Loch in ihrem Geist mit Nationalismus zu füllen.

Dem Kapitalismus gefällt das, denn er braucht die Demokratie nicht, um die Erde auszubeuten; und bildungsferne nationalistische Zombies sind hervorragende Konsument*innen, da sie immer mehr Fleisch, Bier, Auto und Deutschland in ihre Pickelhaube leeren möchten, weil ihnen das das Gefühl der Erfüllung und der vermeintlichen Stammeszugehörigkeit gibt, solange sie mehr Betäubung und erwünschte Selbstbestrafung reinleeren als Schmerz am Pickel der Haube herabläuft. Doch es muss etwas geben, das sie aus diesem Teufelskreis der selbstgewählten Unmündigkeit befreien kann. Denn kein Mensch wird als Nazi geboren.

Und bei dieser Betrachtung kam in mir der Gedanke auf, dass es eine Antiwaffe geben müsste. Ein Bildungsgeschütz.
Einen Geistzeugträger. Einen Friedenspanzer. Er verspricht im Lied der Ärzte, dass er den Frieden ohne Schmerz bringt.

Doch das ist die Utopie eines Popsongs; und die hilft uns nur so weit wie Hoffnung den Glaubenden. Nur über den Tag hinweg. Der Schmerz in uns Menschen, ob wir Nazis sind oder nicht, ist solange der Ausgangspunkt neuen Leides, bis wir ihn in Gemeinschaft mit anderen Menschen verantwortungsvoll reflektieren.

In Einsamkeit hochkochender unreflektierter Schmerz führt zu Abgrenzung und Asozialität; und dort schlägt sich die rechte Propaganda Bahn.

Der Populismus der Nazis wird die Spirale der Gewalt weiterdrehen, wo eine aufgeklärte und reflektierte, wohlwollende und empathische Gesellschaft die Spirale der Gewalt unterbricht, ohne den Schmerz zu leugnen.
Eine Gesellschaft, die den Anspruch an sich selbst hat, Menschen aus einer selbstgewählten Unmündigkeit zu befreien, anstatt sie in und durch dieselbe auszubeuten.

Ohne die Geschichte zu eigenen Gunsten zu verzerren. Ohne sich an der Ignoranz der Masse zu bereichern. Für Verantwortung in Freiheit und Freiheit in Verantwortung.

 

22.1.2024