Winfried Müller, einer der Gründer von Trott-war
- Warum gibt es nach 30 Jahren immer noch Straßenzeitungen?
Andrea Spahr: Für Integration und Empowerment. Für viele Notleidende ist der Verkauf der Straßenzeitung eine Möglichkeit, wieder in die Gesellschaft integriert zu werden. Trott-war bietet ihnen eine sinnvolle Tätigkeit, stärkt ihr Selbstwertgefühl und ermöglicht ihnen, Teil der Gesellschaft zu sein. Weil es immer noch institutionelle Gewalt gibt, der manche Zielgruppen versuchen zu entfliehen, bieten die Straßenzeitungen eine niederschwellige Alternative, um unabhängig von „institutionellen Almosen“ zu sein, die doch nie ausreichen zum Leben.
Trott-war dient nicht nur als Einkommens-, sondern auch als Informationsquelle. Es wird über Soziales, Obdachlosigkeit, Armut und andere relevante Themen berichtet. Durch den Verkauf und die Verbreitung dieser Zeitung wird das Bewusstsein für diese Probleme geschärft.
Albert Wild: Die Not der Menschen ist auch in Stuttgart und Umgebung weiterhin da und es braucht zu den bestehenden Medien auch eine Stimme der Armen, der Wohnungslosen und Obdachlosen und der benachteiligten Menschen, ob auf dem Arbeitsmarkt oder aufgrund ihrer Herkunft oder familiären Situation.
Winfried Müller: Weil sie gut gemacht sind und viele MitbürgerInnen verstehen, dass damit eine wichtige gesellschaftspolitische Informationslücke ausgefüllt wird.
Ulrich Rabeneick: Weil der direkte Kontakt immer noch wichtig ist und Straßenzeitungen nicht digital ersetzt werden können.
- Wo fand das erste Treffen statt und wie viele Personen waren beteiligt?
Winfried Müller: Ich war zum ersten Mal im Februar 1994 dabei, aber es gab schon davor Gespräche, bereits 1993.
Ulrich Rabeneick: Das erste Treffen fand meines Wissens Ende 1993 in der eva statt, beteiligt waren dortige MitarbeiterInnen, der Caritas, der Neuen Arbeit und der Wohnungslosenhilfe.
Andrea Spahr: Das erste Treffen der Trott-war-Gründenden in Stuttgart fand im Jahr 1994 statt. Sie erschien als vierte deutsche. Damals waren sozial benachteiligte Menschen beteiligt, die durch den Verkauf der Zeitung ein Einkommen, eine Wohnung und mehr erhalten konnten. Parallel dazu gab es eine Straßenzeitung, von professionellen Journalisten gemacht, von dieser kam Edmund Holzapfel.
Albert Wild: Das erste Treffen fand bei der Evangelischen Gesellschaft in der Büchsenstraße 36 statt. Anwesend waren Mitarbeitende aus der Wohnungslosenhilfe und der Jugendhilfe der eva, der Neuen Arbeit, der Wohnungslosenhilfe des Caritasverbandes Stuttgart und der Diakoniepfarrer.
- Was war die Absicht, einen Verein wie Trott-war zu gründen?
Ulrich Rabeneick: Durch das Vorbild von Hinz&Kunzt in Hamburg angeregt, hatten wir vor, mit einer Straßenzeitung das Problem der Wohnungslosigkeit in die Öffentlichkeit zu tragen und Betroffenen Möglichkeiten der Beteiligung und der Beschäftigung zu eröffnen.
Andrea Spahr: Menschen, die aus dem System „gefallen“ waren, ein niederschwelliges Angebot zu machen, sich einen Teil ihres Lebensunterhalts zu erarbeiten und damit wieder Selbstbewusstsein aufzubauen.
Albert Wild: In der Region Stuttgart wurden die Themen Wohnungslosigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit überwiegend durch die Träger der Freien Wohlfahrtsverbände und der Stadtverwaltung bearbeitet. Eine „unabhängige“ oder aus der Brille der benachteiligten Menschen veröffentlichte Meinung fehlte. Mit dem Erscheinen der Hamburger Straßenzeitung „Hinz&Kunzt“ wurden wir angeregt, eine solche Straßenzeitung auch in Stuttgart zu initiieren.
Winfried Müller: Menschen vom Rand der Gesellschaft in deren Mitte zu holen.
- Wie sind Sie persönlich auf die Gründung des Vereins aufmerksam geworden?
Albert Wild: Die Idee, sich mit einer Straßenzeitung in Stuttgart zu befassen, ergab sich Ende 1993 in einem Gespräch mit Rolf Göttner, Ralf Brenner und Uli Rabeneick. Bis zur Gründung dauerte es noch einige Monate, da hier enorme Vorarbeiten nötig waren. Gründungsmitglieder waren nach meiner Erinnerung Peter Ringwald, Abteilungsleiter Jugendsozialarbeit bei der eva, Winfried Müller, Geschäftsführer der Neuen Arbeit Stuttgart, Uli Rabeneick, Leiter des Sozialdienstes der Neuen Arbeit Stuttgart, Gerda Schöllhammer, Mitarbeiterin der Buchhaltung der Neuen Arbeit, Diakoniepfarrer Martin Fritz, Rolf Göttner, Leiter der Wärmestube der eva, Ralf Brenner, Fachbereichsleiter der Wohnungslosenhilfe des CV Stuttgart und Albert Wild, Abteilungsleiter Soziale Dienste des CV Stuttgart.
In der ersten Mitgliederversammlung wurde Peter Ringwald zum Vorsitzenden gewählt, Albert Wild zum stellvertretenden Vorsitzenden, Rolf Göttner zum Schriftführer und Gerda Schöllhammer für die Buchhaltung.
Winfried Müller: Als Geschäftsführer des Sozialunternehmens Neue Arbeit wurde ich rasch von unserem leitenden Mitarbeiter Rabeneick in die Gespräche einbezogen.
Ulrich Rabeneick: Ich wurde angefragt und war von Anfang an dabei.
Andrea Spahr: Durch eine Stellenanzeige für Sozialarbeit.
- Waren sich die Gründer damals bewusst, dass es noch eine andere Straßenzeitung in Stuttgart gab?
Albert Wild: Während der Gründungsphase erschien in Stuttgart völlig überraschend für
uns eine andere Straßenzeitung. Auch von Seiten der Politik wurde darauf hingewiesen, dass sich die beiden Straßenzeitungen verständigen und einen gemeinsamen Weg gehen sollten. Wir haben uns mit den Verantwortlichen von Prisma zusammengesetzt. Sie wollten, dass wir zurückstecken, dass der Name Trott-war verschwindet und der Name ihrer Zeitung beibehalten wird. Darauf konnten und wollten wir nicht eingehen. Das Erscheinungsbild von Prisma entsprach nicht unseren Vorstellungen. Auch persönlich schien eine vertrauensvolle Zusammenarbeit erst nicht möglich.
Winfried Müller: Es gab eine zweite Initiative und wir haben uns zusammengesetzt, um eine gemeinsame Zeitung zu machen. Die anderen wollten aber schneller sein und starteten mit der Zeitung Prisma.
Ulrich Rabeneick: Erst einige Monate später erfuhren wir, dass es noch eine andere Initiative gab.
Andrea Spahr: Ja, beide Seiten kannten einander und haben sich bewusst für eine Fusion entschieden.
- Wer dachte sich den Namen Trott-war aus?
Winfried Müller: Als es auf die Gründung zuging, saß eine Gruppe aus eva, Caritas und Neue Arbeit zusammen und hat sich den Lebensraum der Wohnungslosen vorgestellt: so kam man auf Straße, Gehweg, Trottoir; und aus der französischen Aussprache dieses Wortes wurde dann „Trott war“. Ja, dieser Lebens-Trott soll bald der Vergangenheit angehören: Trott war!
Ulrich Rabeneick: Im Rahmen der Namenssuche waren verschiedene Vorschläge im Raum und dann hatte Herr Müller den Begriff eingebracht.
Andrea Spahr: Da bin ich mir nicht sicher … Der Name „Trott-war“ hat eine interessante Herkunft. Er leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort „trot“ ab, das so viel wie „Weg“ oder „Pfad“ bedeutet. In diesem Kontext bezieht sich der Name auf eine Straße oder einen Weg, der oft begangen wurde.
Albert Wild: Wir machten uns schon in der Anfangsphase daran, einen Namen für die Straßenzeitung in Stuttgart zu finden. „Hinz&Kunzt“ sollte es nicht sein. Und dann hat Winfried Müller den Namen „Trottoir“ genannt.
- Was waren die Gründe für den Namen?
Andrea Spahr: Die Wahl dieses Namens spiegelte die Ziele und Werte der Straßenzeitung wider: Arbeit. Die Straßenzeitung bietet Menschen in Not eine Möglichkeit zur Integration in die Gemeinschaft und ein zusätzliches Einkommen. Der Name „Trott-war” betont den Weg zur Verbesserung ihrer Situation. Durch den Verkauf der Zeitung können VerkäuferInnen ihr Selbstvertrauen stärken und sich als aktive TeilnehmerInnen in der Gesellschaft fühlen. Die Straßenzeitung öffnet den Betroffenen neue Perspektiven, indem sie nicht nur finanzielle Unterstützung bietet, sondern auch Bewusstsein schafft und Empowerment fördert. Insgesamt symbolisiert der Name „Trott-war“ den Weg der Veränderung und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für diejenigen, die von sozialen Herausforderungen betroffen sind.
Albert Wild: Alle waren begeistert und wir haben miteinander den Namen zu Trott-war weiterentwickelt. Trottoir für Straße, Trott- um aus- und aufzubrechen, -war, um für etwas zu kämpfen und auch um einiges hinter sich zu lassen.
Winfried Müller: Die Wortschöpfung soll ermuntern: Ich will aus der Szene herauskommen.
Ulrich Rabeneick: Der Begriff „Trott-war“ bezieht sich auf Französisch „Trottoir“ und der „Trott“ für Wohnungslose sollte überwunden werden, um etwas Neues zu beginnen.
- Wie lange waren Sie für Trott-war tätig? Was war Ihr Aufgabenbereich?
Albert Wild: Ich war zwei Wahlperioden lang im Vorstand und für 20 Ausgaben Herausgeber der Straßenzeitung Trott-war.
Winfried Müller: Nur im ersten Jahr und dies indirekt, indem die Neue Arbeit mit ihren logistischen Möglichkeiten und ihrem Netzwerk der neuen Einrichtung aushalf.
Ulrich Rabeneick: Als Mitarbeiter der Neuen Arbeit war ich zuständig für den Personalbereich, also die ersten Jahre Beschäftigungsmöglichkeiten über das BSHG, „Arbeit statt Sozialhilfe“ und die Einrichtung von ABM-Stellen. Auch Herr Schmid war am Anfang zunächst über ABM eingestellt.
Andrea Spahr: Ich habe vier Jahre als Sozialpädagogin für Trott war gearbeitet – zunächst bei der Neuen Arbeit angestellt, zu Trott war „ausgeliehen“ und dann beim Verein angestellt.
- Kaufen Sie heute noch regelmäßig unsere Zeitung?
Albert Wild: Nur unregelmäßig, wenn ich nach Ludwigsburg komme. Ich wohne in Vaihingen an der Enz und arbeitete von 2003 bis 2016 in Bruchsal. Dann spreche ich gerne mit den Verkaufenden, allerdings ohne meine Geschichte mit Trott-war anzusprechen.
Winfried Müller: Ja! Oder meine Frau.
Ulrich Rabeneick: Ja, wobei ich die letzten Jahre nicht mehr jede Ausgabe gekauft habe.
Andrea Spahr: Schwierig, ich lebe nicht mehr in Baden-Württemberg. Wenn ich mal da bin, schon.
- Wie sehen Sie die Entwicklung des Vereins seit seiner Gründung bis heute?
Andrea Spahr: Bei dem Durchhaltevermögen des Projekts durch viele Krisen hindurch gibt es offensichtlich noch immer einen Bedarf an einer solchen hoffentlich autonomen, systemunabhängigen Einrichtung.
Albert Wild: Ich bin schon viel zu lange weg, um hierauf zu antworten. Allerdings bin ich dankbar dafür, dass die Straßenzeitung so lange existiert und nun das 30-jährige Jubiläum feiern kann: Meinen Glückwunsch!
Winfried Müller: Positiv.
Ulrich Rabeneick: Trott-war hat sich im Laufe der Jahre von dem Thema Wohnungslosenhilfe etwas verabschiedet und es gab auch keine Kooperation mehr mit Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.
- Waren sich die Gründungsmitglieder bekannt?
Winfried Müller: Ja – zumindest wussten alle, aus welcher sozialen Einrichtung die anderen kommen.
Ulrich Rabeneick: Teilweise durch berufliche Kontakte, aber nicht alle.
Andrea Spahr: Davon gehe ich aus, wegen der Fusion, um sich nicht selbst durch Konkurrenz kaputt zu machen.
Albert Wild: Ja, ich kannte jedes Mitglied.
- Wie wurde die Gründung bekannt gemacht?
Albert Wild: In den Stuttgarter Nachrichten, in den Kirchenzeitungen, in der Öffentlichkeitsarbeit der Freien Wohlfahrtspflege, im Jugendhilfe- und im Sozialausschuss der Stadt Stuttgart und vor allem durch die Straßenverkäuferinnen und Straßenverkäufer in ihrem auffallend roten Erscheinungsbild.
Winfried Müller: Über die Netzwerke der sozialen Einrichtungen, bei denen die Gründungsmitglieder angestellt waren, und über die Presse.
Ulrich Rabeneick: Über die Medien und über die Wohnungslosenhilfe, aber insbesondere über die erste Zeitung, die am 17. November 1994 erschien, und die Betroffenen.
Andrea Spahr: In erster Linie durch die VerkäuferInnen im persönlichen Kontakt mit KundInnen, aber natürlich durch die beteiligten Wohlfahrtsverbände (eva, Caritas) und ihre Infrastruktur und durch die Zeitung selbst.
- Auf welche Widerstände stießen Sie?
Andrea Spahr: Oh, da gab es einige, zum Beispiel bei den Verhandlungen mit dem zuständigen Sozialamt wegen der vermeintlich hohen „Einkünfte“ der VerkäuferInnen; aber auch das Ringen um Selbstständigkeit, ohne zu einem Wohlfahrtsverband zu gehören, war eine Herausforderung.
Albert Wild: Durch die plötzlich erscheinende andere Straßenzeitung Prisma stießen wir auf Widerstand. Natürlich gibt es auch Sorgen bei der Stadtverwaltung und bei den Wohlfahrtsverbänden, wenn eine unabhängige Straßenzeitung auftritt. Uns war es wichtig, dass von Trott-war eigene Positionen und Sichtweisen thematisiert werden, allerdings waren wir darauf bedacht, dass keine persönlichen Beleidigungen und Angriffe erfolgten.
Ansonsten wenig Widerstand, doch viel zu organisieren, zu klären und zu riskieren.
Winfried Müller: Ich erinnere mich an keine nennenswerten Widerstände.
Ulrich Rabeneick: Zunächst musste eine Klärung mit der anderen Straßenzeitung „Prisant“ erfolgen, da klar war, dass nur eine Zeitung Überlebenschancen in Stuttgart hat. Auch das Thema Anrechnung des Erlöses für VerkäuferInnen von Trott-war war wie bei jedem Einkommen schwierig.
- War die Sozialarbeit von Anfang an mitgedacht oder hat sie nach und nach Einzug gehalten?
Ulrich Rabeneick: Zu Beginn spielte das Thema keine Rolle, da Wohnungslose über das damalige gute Netz der Wohlfahrtseinrichtungen in Stuttgart betreut wurden. Aber schon nach einigen Monaten wurde deutlich, dass Trott-war einen eigenen Sozialdienst braucht.
Andrea Spahr: Seit Herbst 1995 – mit der Fusion – war Sozialarbeit angedacht und über die Neue Arbeit GmbH realisiert worden. Später wurde auch im Verein Sozialarbeit angeboten, aber bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten immer mal ausgesetzt.
Albert Wild: Das soziale Netzwerk der Wohlfahrtspflege war in der Anfangsphase hilfreich, da es untereinander eine gute Zusammenarbeit gab und für den Verein die Herausgabe einer Straßenzeitung schon finanziell eine Überforderung gewesen wäre, sodass die Anstellung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern nicht denkbar war. Je mehr sich Trott-war etablierte und erfolgreich vergrößerte, umso klarer wurde der Bedarf an einem eigenen Sozialdienst.
Winfried Müller: Das war von Anfang an ein zentraler Aspekt, wurde aber auch weiterentwickelt.
- Gab es bereits zu Beginn Kontakt zu anderen Straßenzeitung? Falls ja, wie wurde dieser gepflegt?
Andrea Spahr: Soweit ich mich erinnere, wurde das intensiv angestrebt, als Tanja Thornten die
Chefredaktion übernahm. Ich denke, dieser Impuls und seine Umsetzung gingen von ihr aus. Und alles begann mit einem internationalen Fußballturnier.
Albert Wild: Kontakte gab es. Allerdings wollten wir eine Straßenzeitung für und in unserer Region Stuttgart sein. Einen politischen Zusammenschluss von deutschen oder gar europäischen Straßenzeitungen strebten wir damals nicht an.
Winfried Müller: Es gab gegenseitigen Austausch und Treffen.
Ulrich Rabeneick: Meines Wissens gab es früh Kontakt, auch um sich gegenseitig auszutauschen.
- Wie hat man Verkaufende gefunden?
Albert Wild: Die gute Zusammenarbeit der Träger der Wohnungslosenhilfe und der Arbeitslosenhilfe in Stuttgart waren ein Garant für einen erfolgreichen Start und durch sie wurden auch die Verkäuferinnen und Verkäufer akquiriert. Durch die Neue Arbeit konnten sie sozialrechtlich abgesichert werden.
Winfried Müller: Aus dem Kreis der Arbeits- und Obdachlosen, für die die Einrichtungen der
Gründungsmitglieder verantwortlich waren.
Ulrich Rabeneick: Zunächst über die verschiedenen Angebote der Wohnungslosenhilfe und dann auch über die Zeitung selbst.
Andrea Spahr: Oh, das war durch die VerkäuferInnen selbst und ihr Auftreten beim Verkauf. Sie haben sehr viel Mund zu Mund Propaganda gemacht. Aber ich denke auch, KundInnen haben immer mal Menschen zu uns geschickt.
- Demokratie und Mitsprache sind auch im sozialen Sektor noch ausbaufähig, oder?
Albert Wild: Dieses Thema ist eine permanente Herausforderung in unserer Gesellschaft und damit auch im Feld der sozialen Arbeit. Dies ist besonders da in den Blick zu nehmen, wo Machtgefälle vorliegen. Es geht darum, den Anderen nicht als sozial Schwachen, sondern als Mitmenschen zu sehen, der etwas beitragen will und kann.
Winfried Müller: Gegenfrage: Kommt dies bei Trott-war zu kurz? Oder wie soll ich diese Frage verstehen?
Hier eine Antwort unsererseits: Diese Frage versucht Ihnen unser im Mai gewählter Betriebsrat Daniel Knaus zu beantworten: „Andere Mitarbeitende und ich sahen unter der alten Geschäftsleitung unter Helmut Schmid kaum Chancen zur Mitsprache. Demokratie war für ihn kein betriebliches Konzept, weshalb er sie in Sitzungen auch explizit ablehnte. Er nannte sich ‚der Gründer von Trott-war‘, was ja auch nie stimmte. Aus diesen Erfahrungen heraus freuen wir uns über einen modernen Führungsstil zusammen mit unserem neuen Geschäftsleiter Sebastian Huber. Um also Ihre Frage zu beantworten: Auch durch die Betriebsratsgründung sehen wir aktuell starke Chancen zur Mitsprache.“
Ulrich Rabeneick: Beides und vor allem die „gleiche Augenhöhe“ und die gegenseitige Wertschätzung sind noch ausbaufähig und müssen fortlaufend entwickelt werden.
Andrea Spahr: Aber ja, auf jeden Fall.
- Sahen Sie Ihre Vorstellungen und Ziele von der Straßenzeitung/dem Verein in den letzten Jahren/Jahrzehnten verwirklicht?
Ulrich Rabeneick: In den ersten Jahren, dem ersten Jahrzehnt, ja, aber danach haben immer mehr Eigeninteressen der Verantwortlichen von Trott-war eine bedeutende Rolle gespielt. So wurden auch Wahlen durch plötzliche Neueintritte gesteuert.
Andrea Spahr: Auf jeden Fall, aber es gibt immer Luft nach oben, vor allem, wenn es wenige neue Impulse wegen alter eingesessener Strukturen gibt.
Albert Wild: Da bin ich zu weit weg, um dies beurteilen zu können. Ich freue mich, dass es Trott-war gibt.
Winfried Müller: Mit dem Vorbehalt, dass ich nicht mehr in den Verein hineinsehe, sage ich: In der Summe gesehen – ja.
- Identifizieren Sie sich heute noch mit Trott-war?
Ulrich Rabeneick: Ich halte Trott-war weiterhin für sehr wichtig und es ist ein Skandal, dass das Thema Wohnungslosigkeit seit über 30 Jahren nicht wirklich angepackt wird und sich die Wohnraumsituation verschlechtert hat. Hier denke man auch an Leerstände.
Andrea Spahr: Schwer zu sagen, da ich doch sehr weit weg bin.
Albert Wild: Trott-war und ist ein wichtiges Projekt und ich freue mich, dass ich an der Geburt mithelfen konnte.
Winfried Müller: Solange es Arbeits- und Obdachlose gibt, ist Trott-war für sie eine wichtige Heimat und für die Gesellschaft die Zeitung eine wichtige Informationsquelle; es ist ein originäres Sprachrohr für Arbeits- und Obdachlose.
- Können Sie sich vorstellen, sich wieder in den Verein einzubringen?
Andrea Spahr: Eher nicht.
Albert Wild: Da bin ich zu lange und auch zu weit weg.
Winfried Müller: Nein! Ganz ehrlich: da bin ich zu alt.
Ulrich Rabeneick: Eventuell, aber inzwischen bin ich in dem Thema nicht mehr so drin.
- Wann und weshalb haben Sie Ihr Engagement für Trott-war eingestellt?
Winfried Müller: Gedanklich habe ich mein Engagement nie aufgegeben, denn in kleinen Handlungen und Gesten stehe ich nach wie vor zu Trott-war. An meinem Wohnort kenne ich sehr viele Leute und diese gehen am Samstag auch oft auf den Markt; da stelle ich mich zuweilen neben den Trott-war-Verkaufenden und werbe für sie/ihn. Und wenn ich in Stuttgart einen Verkaufenden sehe, versuche ich ein paar aufmunternde Sätze mit ihr/mit ihm zu wechseln.
Ulrich Rabeneick: Siehe unter 18.
Andrea Spahr: 1998 gab es keine Finanzierungsmöglichkeit und keinen Wunsch nach eigener Sozialarbeit mehr.
Albert Wild: 2003 wechselte ich vom Caritasverband Stuttgart zum Caritasverband Bruchsal und war dadurch auch nicht mehr in Stuttgart aktiv.
- Wie haben Sie Trott-war in den letzten Jahren „als Außenstehender“ wahrgenommen? Und haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen Mitwirkenden?
Winfried Müller: In der Summe freue ich mich immer, solange ich Trott-war-Verkaufende sehe. Zu den Mitarbeitenden hatte ich keinen Kontakt mehr, erst jetzt wieder im Zusammenhang mit dem anstehenden Jubiläum.
Ulrich Rabeneick: Kontakt habe ich noch zu verschiedenen „Ehemaligen“, die aber die Entwicklung in den letzten Jahr(zehnt)en ebenfalls bedauern.
Andrea Spahr: Wenig, nein.
Albert Wild: Ich habe mich nach meinem Arbeitsplatzwechsel voll und ganz im nördlichen Landkreis Karlsruhe engagiert. Die Kontakte nach Stuttgart wurden damit rasch reduziert; zu Trott-war sind sie auch auf Wunsch von Helmut Schmid beendet worden. Er machte sein Ding und da wollte er nicht von den Alten „gegängelt“ werden. Einerseits kann ich es verstehen. Nach anfänglichem Schmerz konnte ich dann auch loslassen und dies akzeptieren.
- Inwiefern spielt Trott-war für Sie heute noch eine Rolle?
Ulrich Rabeneick: Ich lese Trott-war immer noch gerne.
Andrea Spahr: Wenn ich Fotos anschaue und sehe, was wir alles miteinander erlebt haben, vom Umsonst & Draußen als größtes nichtkommerzielles Musik-Polit-Kultur-Festival in Stuttgart bis zu Segeltörns in Holland. Es gab so schöne Momente und Begegnungen zwischen so unterschiedlichen Menschen, dass mir noch heute das Herz aufgeht.
Albert Wild: Ich denke gerne an Trott-war zurück und bin auch stolz darauf, dass wir es damals gemeinsam wagten.
Winfried Müller: Indem ich nach wie vor Mitglied bin und meinen Beitrag bezahle und den Kontakt zu den VerkäuferInnen suche.
- Können Sie sich mit den Inhalten der Straßenzeitung identifizieren?
Winfried Müller: Sie sind für mich und meine Frau nach wie vor eine interessante Informationsquelle.
Ulrich Rabeneick: Teilweise; mit den meisten Inhalten.
Andrea Spahr: Ja.
Albert Wild: Ja. Sie sind aktueller denn je.
- Vermissen Sie etwas an Trott-war als Verein?
Albert Wild: Ich bin zu weit weg, um dazu etwas sagen zu können. Aber ich freue mich auf noch viele Jahre „Trott-war“, und wünsche der Straßenzeitung Kraft und Geschick, um die drängenden sozialen Themen auch durch persönliche Zeugnisse von in Armut lebenden Menschen in die Öffentlichkeit zu bringen.
Winfried Müller: Nein. Dies liegt aber wohl auch an meiner altersbedingten Zurückhaltung.
Ulrich Rabeneick: —
Andrea Spahr: —
- Was sind Ihre Gedanken zu den Verkaufenden?
Andrea Spahr: Trott-war bietet Obdachlosen, Asylbewerbenden und Menschen in sozialer Not eine Möglichkeit, ihr Leben zu verbessern. Durch den Verkauf dieser Zeitung können sie etwas zu ihrem Lebensunterhalt dazuverdienen und erhalten gleichzeitig Zugang zu sozialen Dienstleistungen (Beratung) und Unterstützung. Die Straßenzeitung dient nicht nur als Einkommensquelle, sondern auch als Informationsquelle. Durch ihren Verkauf und ihre Verbreitung wird das Bewusstsein für soziale Themen und andere relevante Angelegenheiten geschärft. Hier haben die Verkaufenden ihre Lobby.
Albert Wild: Sie werden in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Das Thema Armut und Benachteiligung ist durch sie präsent und in aller Regel werden sie als „Arbeitende“ angesehen – im besten Sinne des Wortes. Durch sie wird Armut in der Öffentlichkeit sichtbar. Sie sind mahnende Zeugen für Solidarität in unserer Gesellschaft und auch Teil dieser.
Winfried Müller: Wie aus dem Gesagten hoffentlich deutlich geworden ist, habe ich positiv zugewandte Gedanken.
Ulrich Rabeneick: Es sind immer weniger klassische Wohnungslose, teilweise sind es seit vielen Jahren dieselben. Trott-war sollte ein Einstieg sein und Mut machen, wieder zu arbeiten.
- Was möchten Sie Trott-war für die nächsten Jahre auf den Weg mitgeben?
Ulrich Rabeneick: Wohnungslose sollten wieder mehr im Mittelpunkt stehen.
Andrea Spahr: Insgesamt seid Ihr ein Instrument, das nicht nur finanzielle Hilfe bietet, sondern auch soziale Integration, Bewusstseinsbildung und Empowerment fördert. Trotz des Fortschrittes bleibt ihr ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft. Schaut nach innovativen Möglichkeiten und bietet euren VerkäuferInnen die Hand zur Hilfe, damit sie ihr Leben nach ihren Wünschen gestalten können. Es waren die schönsten Momente, gemeinsam mit den Verkaufenden per „Trott-war- Bus“ Möbel in „ihre“ neue Wohnung zu bringen, die sie sich einrichten konnten.
Albert Wild: Gottes reichen Segen!
Winfried Müller: Dass sich die Verantwortlichen und die VerkäuferInnen mit Respekt begegnen, in der Zeitung nicht nur ihre Ansichten zum Ausdruck bringen, sondern auch anderen Gruppen unserer Gesellschaft darin Raum geben, um auch für andere da zu sein.
- Trott-war entwickelte sich aus der Obdachlosenhilfe. Wie sehen Sie deren Stellenwert heute?
Winfried Müller: Es wird immer Obdachlose geben; es bleibt aber die Pflicht der Gesellschaft, alles zu tun, sie immer wieder, wenn irgend möglich, in die gesellschaftliche Mitte zurückzuholen und zu integrieren. Dazu bleibt Trott-war wichtig.
Ulrich Rabeneick: Es fehlt ein Anwalt für das Thema und die Betroffenen; der Mieterverein hat andere Aufgaben.
Andrea Spahr: Ich habe leider keinen Einblick mehr in die deutsche Obdachlosenhilfe. Aber ich denke, es gibt noch immer einen großen Bedarf – vor allem an innovativen Angeboten abseits der institutionellen Hilfe.
Albert Wild: Das Thema Wohnungsnot war und ist heute erst recht das große Thema in der Gesellschaft. Da ist es mir viel zu leise geworden.
- Wie würden Sie sich eine Jubiläumsfeier für Trott-war vorstellen?
Ulrich Rabeneick: Ehemalige MitarbeiterInnen und ZeitzeugInnen aus verschiedenen Phasen sollten zu Wort kommen. Auch die Gründungsphase sollte korrekt dargestellt werden. Ohne Caritas, eva und die Neue Arbeit hätte Trott-war die Anfangsjahre nicht überstanden.
Andrea Spahr: Rockt Stuttgart!
Albert Wild: „Feste sollte man feiern, wie sie fallen.“ Und Trott-war hat allen Grund dazu. Die Verkäuferinnen und Verkäufer sollten zu Wort kommen, Erlebnisse vom Zeitungsverkauf erzählen und auch wie sie Passanten oder Käuferinnen erleben. Vielleicht wäre auch ein Dankgottesdienst „der verschiedenen (auch nichtchristlichen) Religionen“ denkbar.
Winfried Müller: Möglichst einen Sponsor zu finden für ein fröhliches Fest mit den Verkaufenden, der Trott-war-Leitung, besonderen Freunden und – wenn es nicht zu viel wird – den Mitgliedern.
- Und zum Schluss eine persönliche Frage: Was ist Ihnen im Leben wichtig?
Winfried Müller: Menschen, die mir begegnen, ein bisschen glücklicher zu machen und dabei selbst Glück verspüren zu dürfen.
Albert Wild: Miteinander – Begegnung – Zusammenhalt – Frieden – soziale Gerechtigkeit – Gesundheit.
Ulrich Rabeneick: Die Verwirklichung der Menschenrechte, die Auseinandersetzung mit den Zuständen, die noch nicht in Ordnung sind, Ehrlichkeit und viel Optimismus.
Andrea Spahr: Wertschätzende, zwischenmenschliche, persönliche Beziehungen.
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