„Arbeit, Perspektive, Würde“ – diese für Trott-war zentralen Begriffe umgeben das prächtig rote Verkaufenden-Graffito in unserem Vertriebseingang. Auf der Straßenzeitung in der Hand steht „Since 1994“ – zu unserem 30-jährigen Jubiläum schufen uns Chris und Patrick von Graffiti Stuttgart das Kunstwerk ehrenamtlich. Hier erzählen sie Daniel Knaus im Interview aus ihrer Lebenswelt als Sprühende.
Wie würdet Ihr Eure Arbeit selbst beschreiben?
Chris: Wir haben beide eine unterschiedliche Definition, jeder für sich. Ich sehe mich als kreativen Dienstleister, gar nicht unbedingt als Künstler. Ich habe ein Grafikdesign-Studium als Background. Kunden haben eine Erwartungshaltung und stellen mir nicht einfach eine Fläche zur Verfügung, damit ich mache, auf was ich Bock habe. Mein Anspruch an die Sache ist, für jeden Auftrag eine individuelle Lösung zu finden – clean, realistisch, generalistisch. Ich habe meine eigene Bildsprache, aber auch den Anspruch, hochqualitative Gestaltungsarbeiten zu machen. Und natürlich mache ich Workshops.
Patrick: Ich sehe mich in erster Linie als Vermittler. Ich bringe Leute zusammen und vernetze sie. Von an Graffiti interessierten Jugendlichen, besorgten Eltern, Leuten, die Jugendliche fördern wollen, bis hin zu Eigenheimbesitzern und Konzernen. Niemand ist unfreiwillig bei mir und ich leiste etwas Produktives. Graffiti ist oft ein soziales Happening. Mein Ziel ist, Menschen glücklich zu machen. Leute kommen lächelnd aus dem Workshop. Zum Beispiel am Kindergeburtstag: „Mama, das ist der schönste Tag meines Lebens.“ Oder wenn eine Braut anfängt, zu weinen, wenn sie sich portraitiert sieht – oder der Konzernchef mir die Hände schüttelt und sagt, dass unser Event das coolste war.
Ihr verbindet also Kultur und Gegenkultur, berufliches Arbeiten und Soziales.
Chris: Durch die Auftragsarbeiten haben wir auch einen Botschaftscharakter. Wir sind ein Bindeglied zwischen Szene und Gesellschaft. Die Akzeptanz für Graffiti ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Wir sind Vermittler, verbal und durch unser Tun. Leute sehen, hinter Graffiti steckt mehr als bloße Schmiererei, und gerade wenn wir mit den Leuten sprühen, merken sie, dass es deutlich leichter aussieht, als es ist.
Patrick: Vor 30 Jahren hat die Gesellschaft noch anders auf Graffiti reagiert. Leider ist das Wort heute noch negativ belastet – genauso wie die Sprühdose. In den Köpfen geht damit immer noch eine Straftat einher. Deshalb setzen wir auf Dialog: Wo ist der Unterschied, ob ich mit der Sprühdose oder als Maler mit der Rolle an einer Wand arbeite? Mit dem Medium Sprühdose geht es manchmal keine zehn Minuten, bis die Polizei hinter einem steht. Wir können mit unserem Arbeitsmaterial aber dazu beitragen, die Stadt lebenswerter zu machen. Wenn der Stuttgarter Marienplatz nicht gerade mit Events bespielt wird, ist er eine trostlose Fläche. Wenn wir Lebensräume verschönern, ist das für alle gut.
Mehr öffentliche Flächen zur Gestaltung
Was wünscht Ihr Euch?
Patrick: Wir wollen Gleichstellung für jeden Menschen. Gehör finden, Akzeptanz für Freiräume – in unserem Fall: Wo wir sprühen dürfen. Graffiti wird immer sichtbarer und umso höher wird die Akzeptanz. Wir wünschen uns aus der Verwaltung mehr Dialog. Mit einem besseren Gehör, auf unsere Bedürfnisse einzugehen. Ein Beispiel ist die „Hall of Fame“ in Bad Cannstatt: Es reicht nicht, zu sagen, diese Flächen dürft ihr bemalen und diese nicht, obwohl die bereits bemalt wurden. Auch der Verkehr hat zugenommen und das Miteinander sollte funktionieren. Mit einfachen Mitteln kann jeder seinen Raum haben, nämlich durch Dialog.
Chris: Dialog mit zuständigen Personen – da tut sich viel in Stuttgart, aber da kann im Vergleich zu anderen Städten noch viel mehr passieren. Große Flächen schreien hier nach Gestaltung, oft in privater Hand. Ein persönlicher Wunsch, den auch ich habe: Mehr große Flächen zur Verfügung zu haben, die dann frei gestaltet werden dürfen, auch mal nicht kommerziell.
Patrick: Orte wie die „Hall of Fame“, die ich mit ins Leben gerufen habe und seit 20 Jahren pflege, sind oft überreglementiert. Du könntest aber von Remseck bis nach Plochingen entlang des Neckarradwegs die ganzen Brücken, die schon seit Jahrzehnten vollgeschmiert werden, zu Freiluftgalerien machen. Dann sehen Fahrradfahrende statt Schmierereien tolle Kunstwerke. Wenn Chris dort eine Brücke machen wollen würde, wäre ihm das aber nicht gestattet. Das fördert dann auch Schmierereien, denn nichts ist so inspirierend wie das weiße Blatt Papier. Mit unerwünschten Schmierereien kannst du leben, sie so schnell wie möglich beseitigen – oder sie durch eine Gestaltung verhindern. Ein „Tag“ (Anmerkung der Redaktion: Signatur eines Sprühers, häufig auch mit dem Stift) hat auf einem Bild nämlich gar keine Wirkung, das hat die Deutsche Bahn schon erkannt. Die Stadt gibt leider immer noch mehr Geld fürs Putzen als fürs Gestalten aus.
Fokus auf Graffiti als Kunst
Wie sieht Eure Utopie aus?
Chris: In meinem Fall geprägt durch einen Paradigmenwechsel, was Eigentum angeht. In anderen Ländern kannst du eher mit Leuten sprechen: Darf ich deine Wand anmalen? So etwas wünsche ich mir auch in Deutschland – dass viel mehr gemacht wird, es weniger Hürden gibt und stilistisch eine größere Vielfalt. Und dass Sachen, die polarisieren, die im ersten Hinblick hässlich sind, einen Platz finden. Kunst muss ja nicht immer schön sein.
Patrick: Grundsätzlich sind wir schon auf dem richtigen Weg. Ich lebe jetzt seit über 20 Jahren in Stuttgart. Es gibt eine Handvoll Akteure mit viel Leidenschaft, die Akzeptanz schaffen, dass Graffiti immer sichtbarer wird. An manchen Stellen sollte es mehr Mut geben. Das heißt: Auf dem kurzen Dienstweg einfach Sachen ausprobieren können, ganz laissez-faire einfach mal laufen lassen, statt den Teufel an die Wand zu malen, wortwörtlich. Es sollte mehr Vertrauen geben.
Chris: Wir wollen das Gestaltungsrecht des öffentlichen Raums zurückerobern. Graffiti ist seit jeher ein Gegenpart zu den Werbebotschaften, die uns vor die Nase gesetzt werden. Die gibt es, weil jemand Geld dafür bezahlt hat, aber ich schaue mir lieber ein Kunstwerk an.
Sprühen ist cool. Wie sind Sprühende so drauf?
Patrick: Da viele von uns mit einem Fuß in der Illegalität standen und immer Akzeptanz gesucht haben, sind Sprühende meist offene Menschen. Und ihr Blick bleibt ihnen. So wie Skateboarder, die jeden Bodenbelag scannen, ob der fahrbar ist, so sehen Sprühende ihre Umwelt: Wo kann ich malen? Er sieht nicht nur Graffiti, sondern auch die Werbung von Aldi-Süd, der Commerzbank. Wie machen die ihre Typografie? Wie macht Coca-Cola den Schwung unter sein C?
Chris: Als Sprühende sieht man die Welt ganz anders, wie Patrick schon meinte. Außerdem ist die Szene relativ kompetitiv und man muss sich vor allem zu Beginn schon geiler finden, als man ist, um nicht direkt wieder das Handtuch zu werfen, wenn man kritisiert wird.
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