Damals und heute – der Blick auf die Not
Von Marco Heinz
Die Not kommt mir nahe, während ich von meiner Spätschicht nach Hause gehe. Wenige Minuten sind es nur, bis zum Parkhaus des Einkaufszentrums im Ort. Unter den Stützpfeilern der Auffahrt steht das Lager der Not: Matratzen, alte Decken, Gepäck in Plastiksäcken und ein Schlafsack. Tanzende Schatten springen umher, fahrende Lichter zucken über die Böschung der nahen Schnellstraße. Manchmal raschelt eine Ratte im Gebüsch. Seit beinahe zwei Jahren sehe ich einen Obdachlosen hier lagern – auch im Winter.
Ich fahre an manchen Tagen mit meinem schönen Fahrrad da vorbei, manchmal gehe ich auch, zur Übung für den nächsten Wanderurlaub. Auch der kurze Weg zum Parkhaus ist eine Wanderung, denn er schafft Bewusstsein: Obwohl ich im Beruf als Altenpfleger nie große äußere Reichtümer verdiente, erkenne ich, dass ich rein gar nichts zu klagen habe. Meine Gedanken gehen zurück ins Pflegeheim, dessen Bewohnerinnen und Bewohner mir eindringlich berichteten, dass die letzte Zeit allgemeiner Not wahrlich noch präsent ist.
Herrn N. sah ich in die Augen, der als 17-Jähriger im harten Winter als Lagerinsasse litt. Es war ein Deportationslager gegen Kriegsende nahe Tannwald im böhmischen Isergebirge. Sein Nebenmann war der „Glaskönig“, ein Unternehmer, der bislang über ein internationales Firmengeflecht gebot. Zusammen hüteten sie nun die Schweine. Die Not machte vor niemandem halt. Eine Odyssee per Eisenbahn durch böhmisches Gebiet folgte, meist im Viehwaggon. Endlich wurde er „in Furth im Wald auf deutschem Boden herzlich empfangen“. Noch immer standen dramatische Wendepunkte bevor. Ein Zug fuhr westwärts, einer ostwärts, im Gedränge schaffte er es in jenen gen Westen. Als Bauershelfer wohnte er zunächst sehr beengt im hessischen Ehringshausen. Immerhin konnte er im extrem kalten Winter 1946, als Eiskaskaden an den Ruinen der zerbombten Häuser hingen, seinen Bruder besuchen, den die Kriegswirren nach Stuttgart verschlagen hatten. Wie groß die Not dort war, schilderte er in drastischen Worten: „Er hatte einen Wecker, der machte morgens Krach. Da haben sie alle in einen Eimer geschissen – ich lüge nicht. Am Morgen habe ich mich gewundert, aus welchen Löchern die Frauen rauskamen. Und jede hatte einen Hammer in der Hand – einen Maurerhammer. So haben sie Deutschland wieder aufgebaut“.
Die Geschichte von Herrn N. zählt zu den inneren Reichtümern des Altenpflegers. Als 2024 meine Wanderschritte mich in die Oberpfalz führten, wollte ich unbedingt auch den Bahnhof von Furth im Wald sehen. Der Ort jener dramatischen Wende im Leben des Herrn N. wurde somit Teil meiner Wanderwelt. Die Wirklichkeit – auch die vergangene – spürt unmittelbar, wer sich mit eigenen Schritten nähert. Meine Blicke gingen vom Bahnhofsgebäude, das sich über die Jahre kaum verändert hat, über die groß angelegten, sich stark verzweigenden Schienenstränge. Seit Erbauung der Strecke nach Pilsen im Jahre 1861 lief hier, in guten wie in schlechten Zeiten, eine bedeutende Lebenslinie zwischen Böhmen und Bayern. Mein geistiges Auge sah das Gedränge, das Geschrei, die suchende Verzweiflung, den Staub, den Schweiß vor sich, als 1945/46 die Flüchtlingszüge hier ankamen. Mittendrin steckte ein blutjunger Bursche, der um die Tür zu dem Zug kämpfte, welcher nach Westen weiterfuhr – „mein“ Herr N., später der Freund aus dem Pflegeheim. Ehre seinem Andenken.
Zurück im Alltag sehe ich wieder das Lager am Parkhaus. Die aktuelle Not des Einzelnen und die vergangene Not der Vielen in der Nachkriegszeit mögen sich in vielen Aspekten unterscheiden. Doch Hunger und Kälte schmerzen jeden gleich – zu allen Zeiten. Die Gefühle jener, die das Einkaufszentrum verlassen – in Teilen sicher ein Konsumtempel – mögen bei dem Anblick schwanken zwischen Arroganz und Mitleid. So mancher aber wird einen Stich in der Magengrube spüren, denn der Anblick der Not macht Angst im Wirbel globaler Krisen und im Angesicht eines fürchterlichen Krieges fast vor der Haustür.
Umso wichtiger ist es, niemals die Geschichten und Erfahrungen der Alten zu vergessen. Jene von Herrn N. wendete sich noch zum Guten. In Stuttgart lernte er die Liebe seines Lebens kennen. Er fand eine gutbürgerliche Anstellung, wurde Vater einer Tochter und schließlich auch echt schwäbischer Häuslebauer. Noch im Pflegeheim wusste er sein Leben beim Schachspiel und während geselliger Abende wohl zu genießen. Zudem war er ein vollendeter Gentleman. Nachdem ich ihn interviewt hatte, half er als 90-Jähriger einem ziemlich fitten 50-Jährigen in die Jacke.
So mag sein Vermächtnis für uns Hoffnung sein in Zeiten drohender Not. Vielleicht wendet sich auch die Geschichte des Obdachlosen am Parkhaus noch zum Guten.
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