Fast wie von einem Lineal gezogen läuft der Weg durch den jungen Wald. Fichten, Weißtannen und Rotbuchen sind wieder gewachsen, wo noch vor Jahren der Borkenkäfer sein hässliches Werk bis zur absoluten Kahlheit vollbrachte. Werden und Vergehen ist ein Thema hier im Nationalpark Bayrischer Wald, der Name „Himmelsleiter“ zur Granitkuppe des 1.373 Meter hohen Lusen mag dazu passen. Von diesem steinernen Stufenweg himmelwärts haben mir einst die Angehörigen von Frau Großschachner schon erzählt. Jetzt bin ich da, und spüre die Wirklichkeit des Berges so sensibel wie man sie nur spüren kann – mit eigenen Schritten …
Erzählung von Marco Heinz, Foto von Thomas Tellge
Das behutsame Empfinden des Wanderers hilft mir auch bei meiner Arbeit für Menschen mit Demenz, die ja ebenso gerne umhergehen und neugierig wie der Wanderer ihre Welt betasten. Man darf den Teufel tun, sie daran zu hindern, und Langatmigkeit und Sensibilität braucht es, sie zu verstehen. Solch ein Mensch mit Demenz war auch Frau Maria Großschachner, die mich auf die Idee brachte, einmal den Lusen zu besteigen.
Die Bergeskuppe ist eigen und erfordert ihren Preis. Fast wie die Kuppel eines Domes wirkt der oberste Teil des Berges oder – mit viel kindlicher Fantasie betrachtet – wie die steinerne Kopie der Berliner Reichstagkuppel. Die Kuppe des Lusen ist gewaltiger als Menschenwerk. Meine Oberschenkel – schon vom Anmarsch belastet – beginnen auf der Himmelsleiter zu brennen. Von der letzten Stufe steigt der Weg weiter, der nichts ist, als ein Klettern über die während der letzten Eiszeit angeschwemmten Granitbrocken, aus denen die Kuppel besteht. Manchmal sind sie Meter breit, manchmal fußbreit. Wieder und wieder teste ich den Halt, bevor ich einen Stein belaste. Ab und an muss ich die Hände zum Steigen zu Hilfe nehmen. Dann klebe ich an der Granitkuppel wie eine Fliege an der Wand. Der Atem wird schwer, um mich herum schnaufen andere Wanderer. Erst als ich mich unter dem Kruzifix am Gipfelkreuz umwende, erkennen die Augen, was die sensiblen Beine schon spürten: Dieser Lusen ist ein gewaltiger Kerl. Fast wie ein Adler stehe ich da oben, lasse den Blick über „das grüne Dach Europas“ schweifen, wie der Bayrische Wald und der angrenzende Böhmerwald genannt werden. Es ist ein fantastischer Ort. Dankbar geht mein Blick zu einer weißen Wolke, die nicht mehr weit über mir ist. „Sitzt du da oben auf der Wolke, Maria Großschachner? Siehst du, dass du mich hierher geleitet hast?“ So viel kindliche Fantasie muss erlaubt sein, wenn man im Beruf so oft mit der Vergänglichkeit zu tun hat. Melancholie kommt am schönen Lusengipfel keineswegs auf. Es ist, als blieben alle Sorgen da unten im Dunst über den Tälern zurück.
Aber natürlich ich bin noch in der Welt, es gibt da unten jene Sorgenvollen, die am Rande stehen, die Obdachlosen, die psychisch Kranken, Menschen mit Behinderung, und auch die Dementen. In unserer Gesellschaft gibt es mehr und mehr den Trend, sie zu stigmatisieren und weiter an den Rand zu drängen. Dabei sind es oft ganz besondere Persönlichkeiten, die uns viel zu geben haben.
Bereits von Demenz betroffen war auch Maria Großschachner, als ich sie beruflich kennenlernte. Sie war kaum mehr orientiert, und hatte mehr und mehr Schwierigkeiten, Worte zu finden und zu artikulieren. Ein Acrylbild hing über ihrem Bett, ich benutzte es, um einen Draht zu ihrer Person zu finden. Trotz der beginnenden Aphasie konnte sie noch ausdrücken, dass es den Berg Lusen zeigte. In seinem Schatten war sie geboren, später aus Berufsgründen in meine Heimat am Rande Stuttgarts gekommen. Auch als sie weiter in ihre Eigenwelt versank, blieb sie eine herausragende Persönlichkeit. Bewegung war ihr Lebenselixier, sie lebte ihre Neugierde und tanzte gern – zur Not auch ganz ohne Musik. Stundenlang konnte sie eine Puppe herumtragen. Ihr ganzer Ausdruck dabei war Freude und Liebe. Einmal winkte sie mich herbei, und nun musste ich die Puppe tragen. Einen schöneren Beweis von Vertrauen habe ich selten bekommen. Manchmal rühren einen Demente zu Tränen. Holten ihre Kinder sie zum Spaziergang ab, animierten wir sie immer mit den Worten: „Aber bis auf den Lusen hinauf geht´s heut“. Sie lachte, weit zurückliegende Vergangenheit vergaß sie nicht.
Wie das Leben bei alten Menschen so spielt, hat Frau Großschachner uns irgendwann für immer verlassen. Aber als ich dieses Jahr Inspiration für eine Wanderung im Herbsturlaub suchte, fiel mir dieser Lusen wieder ein. Wo lag der eigentlich ganz genau? Sollte ich da nicht mal selbst hin? Schließlich habe ich ihn mit Schritten gesucht vom mir schon vertrauten Passau aus. Spannungsvoll stieg ich zwei Tage über die Vorhöhen und ersten Berge des Bayrischen Waldes, an Höfen, Dörfern und Weilern vorbei, bis ich am Ortsrand von Hohenau endlich das weitgestreckte Bergmassiv mit seiner steinernen Kuppel sah. Das war der Lusen, wie ich ihn einst auf Frau Großschachners Acrylbild erblickte. Diese Art von Entdecken machte mir Gänsehaut; ganz anders, als wäre ich einem im Internet vorgegebenen Weg gefolgt. Noch weit war mein Gang zum Lusengipfel, über den Baumwipfelpfad am Nationalparkzentrum, an den Elchen, Bären und Hirschen in den Freigehegen im Berghang vorbei, durch das schon wolkennahe Dorf Waldhäuser auf der Bergesschulter, am Ende über die Himmelsleiter und die Granitkuppel zum Gipfel.
Jetzt sitze ich da erhaben im Bereich des Adlers und genieße einen Ausblick vom grenzenlosen Grenzberg über die vereinten Höhen zweier Länder, gewaltige grüne Waldberge überall, die weiter hinten in unendlichen Variationen von Blautönen erscheinen. Nur das tiefe Tal ist überzogen von leichtem Dunst. Wahrlich, seit Jahrzehnten durchquere ich mit dem Fahrrad und zu Fuß Deutschland und Teile Europas. Trotz dem ich als Altenpfleger hart dafür arbeite, weiß ich, das ist ein Privileg gegenüber all denen, die am Rand stehen. Diesen spektakulär schönen Lusen mit seinem Königsblick hätte ich auf all meinen Wegen trotz aller Neugier fast übersehen. Peinlich sollte das einem eifrigen Wanderer sein. Aber es gab ja eine Dame, die mich auf ihn aufmerksam machte. Sie war dement, und ich verdanke ihr einen meiner schönsten Wandertage überhaupt. Somit mag sie symbolisch stehen für all die Menschen am Rand, die so mancher verachtet. Geht man ohne Vorurteil auf sie ein und lernt sie zu verstehen, können sie zur Inspiration werden.
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