Die Kälte hat sich in tief in meine Knochen gefressen, langsam und fast unbemerkt hat sie von mir Besitz ergriffen. Meine Fingerspitzen sind bereits taub geworden, und auch sonst spüre ich keine Wärme in mir. Pustend versuche ich diesen Stumpfsinn mit meinem Atem wieder lebendiger werden zu lassen. Doch die Wärme meines Körpers erreicht nicht einmal meine Lippen. In feinen, grauen Wölkchen entweicht meine tote Luft und verliert sich in weniger als einem Lidschlag im kalten Grau dieses Januartages und ist schließlich ganz verschwunden. Wirkungslos. Kann man so einen toten Körper wiederbeleben? Schweigend zieh ich meine Schultern hoch, denn ich kenne darauf die Antwort nicht, und mir hört ja eh keiner zu …

Von Thomas Hinderhauser

Ich habe mir heute einen Platz an den wärmenden Sandsteinen der Staatsoper gesucht. Gute Plätze für unsereins sind rar geworden. Schnell wird man vertrieben, wenn man sich vor einem Ladengeschäft niederlässt, in das ich mit meinen kaum vorhandenen finanziellen Mitteln nie gehen könnte; oder die mitleidigen und oft auch verurteilenden Blicke flanierender Menschen verursachen mir ein schlechtes Gewissen, das tief in meine Magengrube rutscht, und sich dort wie ein schwerer Granitbrocken einnistet. In solchen Situationen würde ich lieber flüchten als mich alldem auszusetzen. Widerwillig! Denn sonst weiß ich, dass der Griff zur Flasche nicht lange auf sich warten ließe. Scham habe ich schon immer gut mit Alkohol ertränken können. Doch jetzt will ich stark sein!

Ich bin heute spät dran, sehr spät. Doch ist das für mich überhaupt noch von Bedeutung?

Der dünne Abriss eines Kartons, den ich mir unter meinen Hintern geschoben hatte, knistert leise, sobald ich mich bewege. Wehmütig wird mir bewusst, dass er seinen Zweck nicht lange erfüllt hat. Ist durchgescheuert und hat mich nicht wirklich vor der Kälte geschützt. Er ist unbrauchbar geworden und somit abgewrackt. Also passt er zu mir.

Im Rücken fühle ich die Wärme des Sandsteins nicht mehr. Die Sonne stand schon tief, als ich an diesem Platz angekommen bin, und seit einigen Minuten verbirgt sie ihr Strahlen hinter einem milchig-grauen Seidentuch. Ein funkelnder Edelstein, der in die Tiefen eines grauen Ozeans sinkt. Schämt selbst sich die Sonne vor mir? Egal, dieses Gefühl wird überbewertet.

Ein leichter Wind ist aufgekommen, und zerrt unablässig an meinen grauen Barthaaren. Nimm mich mit, denke ich so im Stillen, aber ich bleibe zurück, schwer wie ein Bleigewicht, einfach nur sitzen.

Der zärtliche Hauch einer kalten Berührung lenkt mich ab von meinen trüben Gedanken. Eine kleine Schneeflocke hat sich mit ihren nassen Beinchen auf der alten runzeligen Haut meiner Nasenspitze niedergelassen und sich dabei sofort aufgelöst. Ihr kurzes Leben ist schon beendet. Kalt läuft mir das Wasser in mein linkes Nasenloch.

Inzwischen hat sich, unbemerkt von meiner Aufmerksamkeit, die Stadt in ihr nächtliches Kleid gehüllt, und schmückt sich mit grellen Lichtern. Im Geheimen hoffe ich auf menschliche Wärme. Träum weiter, schalt ich mich alten Narren, und lausche darauf, ob endlich eine Münze dumpf klingelnd in meinen ausgetrunkenen Pappbecher fällt. Doch mich starrt noch immer der helle Boden an und lacht mich förmlich aus. Mein Leben hat eine scheiß Entwicklung genommen. War das alles wirklich meine Schuld?

Tränen füllen meine Augen und verschleiern meinen Blick. Alles wird glasig, und die Grenze des nahegelegenen Sees verschwimmt als ölig schwarze Flüssigkeit mit der Nacht und sperrt die Welt vor mir aus. Wann bin ich so gefühlsduselig geworden? Noch bevor mir eine Antwort einfallen will, beißt mir eine Windböe in meine nackte, ungeschützte Haut, klatscht mir die feuchten Kamikazes aus dem dunklen Winterhimmel direkt ins Gesicht, und ich gebe diesem Wind die Schuld für meine sichtbare Schwäche.

Ich traue mich nicht, tief durchzuatmen. Die Welt soll nicht wissen, dass ich noch am Leben bin. Denn alles um mich herum ist kalt und gierig geworden. Zu viele Erwartungen sind unerfüllt geblieben, und zu viele Versprechen wurden nicht eingelöst. Wann hat es angefangen, dass mich die Welt verschlungen hat? Dieser Gedanke schleicht sich immer wieder in mein Gedächtnis, ein lästiger Besucher, den ich abschütteln will. Aber er bleibt an mir haften wie Pech, das an meinem Rücken klebt. Unerreichbar!

Ich schlinge meine Arme eng um meinen Körper, bilde ein Korsett aus Teilen meines Leibes, um denselben zu schützen. Heute will ich stark bleiben, auch wenn sich das kleine giftige Rumpelstilzchen in mir bereits reckt und streckt. In meinem Hinterkopf kann ich sein Gähnen schon hören, fürchte mich vor seinem endgültigen Erwachen. Bald wird es mir wieder spotttriefende Worte einflüstern und ich weiß, dass ich ihm zuhören werde. Das Ego ist ein geifernder Geselle, ein Begleiter, den ich nicht loswerde, und schlagartig erwacht mein Zorn!

Ich habe meine Hände in den Taschen meines Mantels energisch in die Tiefe gestoßen; dabei ist der altersschwache Stoff der rechten Außentasche durchgebrochen, und meine blanke Faust rutscht haltlos auf den kalten Steinboden.

Plötzlich zieht mich ein feines Kribbeln auf der Haut zurück in das Hier und Jetzt vor das Stuttgarter Opernhaus. Schwerfällig öffne ich meine Lider, weil die Vergangenheit zu präsent gewesen ist und mich noch immer versucht, mit ihren klebrigen Fingern zurückzuhalten. Doch ich kämpfe dagegen an, und als mein Blick zu der Stelle an meinem Körper wandert, wo dieses zärtliche Gefühl mich zu verführen beginnt, da sehe ich buntes Papier, das meine Haut berührt und wie von unsichtbarer Hand geführt wird. Jetzt heben sich erstaunt meine Lider.

Bei näherer Betrachtung stelle ich erstaunt fest, dass das bunte Papier einen kleinen Vogel darzustellen scheint. Ein wunderschöner, aber sehr filigran gefalteter Origami-Kranich hat sich auf meinem Handrücken niedergelassen, und ich kann es kaum glauben.

„Kranich?“, hauche ich dann doch verständnislos und sehr überrascht.

Ein helles Kinderlachen küsst liebevoll meine Ohren und hat meine Aufmerksamkeit gewonnen. Ich bin kurz hin- und hergerissen, weil mich das Wesen aus Papier in seinem visuellen Bann hält, aber der phonetische Anker ist bereits von Bord gelassen und ist mächtiger als meine Augen. Als ich den Ursprung dieses überquellenden Kicherns entdecke, steht ein kleines Mädchen vor mir, und durch seine Hand geführt tanzt der zerbrechliche Vogel auf meiner Haut.

„Kolibri“, sagt es unvermittelt mit einer piepsigen Kleinkinderstimme, und unterstreicht seine Feststellung mit einem süßen und siegessicheren Lächeln. Die haselnussbraunen Augen des kleinen Mädchens leuchten auf, und ihr schwarzes Haar glänzt seidig, als die Sonne es beleuchtet. In diesem kurzen Moment tritt die übrige Welt in den Hintergrund, verschwindet in dem Maße, wie die letzten Strahlen der Sonne am Abendhimmel auf ihre Reise gehen und dabei das graue Seidentuch gänzlich auflösen. Jetzt gibt es nur noch uns drei. Den Vogel, das Mädchen und mich.

„Kolibri“, sagt es erneut in überschwänglicher Freude, und tatsächlich überträgt sich die Freude auf den Freund aus Papier. Seine winzigen Flügel hüpfen auf meinem Handrücken, als würde sich der Kleine gleich in die Luft erheben. Kranich? denke ich konsterniert, und sehe nun, dass es sich bei dem Kunstwerk tatsächlich um die getreue Nachbildung eines Kolibris handelt.

Ein schallendes Lachen steigt in meiner Kehle auf, befreit mein leidendes Herz von einer langen Last, als es meine Lippen passiert. In dieses Lachen fließt das kindliche Kichern mit ein. So sind wir nun zwei Menschen, die nicht unterschiedlicher sein könnten, und die doch aus voller Heiterkeit heraus den Moment begrüßen.

„Da, für Dich!“, kommt die freundliche Aufforderung. Ohne lange darüber nachzudenken, greifen meine großen Finger vorsichtig danach. Behutsam halte ich mir das wunderschöne Kunstwerk vor die Augen und sehe, dass der Vogel dem Winter nicht lange standhalten wird. Sachte verfrachte ich ihn in die Kuhle meiner linken Hand und bilde eine schützende Mauer um ihn. Sanft wiegt sich der Kolibri auf dem Boden seiner sicheren Bleibe. Wie vergänglich er ist! stelle ich besorgt fest und fühle, wie er beginnt, mein Herz zu berühren. Sacht lege ich die freie Hand als schützendes Dach über ihn, und kurzzeitig verschwindet der Vogel im Schatten.

Als ich das leichte Papier auf meiner Hand spüre, schaue ich schüchtern zu dem kleinen Mädchen hin und sehe, wie es seelig lächelt.

„Danke“, hauche ich mit brüchiger Stimme und fühle die Tränen der Rührung in mir aufsteigen.

„Tschüss Nikolaus!“, ruft mir das Mädchen noch zu und folgt dann artig seiner Mutter, während es mir lächelnd zuwinkt. Ich sehe ihnen nach, bis sie um die Ecke des Opernhauses aus meinem Blickfeld verschwinden. Mit einem tiefen Atemzug der Erleichterung, drücke ich den behüteten Vogel vorsichtig an meine Brust und lasse meinen Blick in dem Himmel schweifen.

Von Westen ziehen wieder Wolken auf und beginnen, die Sonne zu verschlingen. Aber ich weiß nun, dass hinter den Wolken die Sonne ist.