Gabriel
Von Claudia Heydorn
Wie immer an Weihnachten, war die Akutstation der Psychiatrie völlig überfüllt. Selbst auf den Gängen reihte sich ein Bett ans andere, voll mit den Siebensachen der Neuzugänge, weil alle Zimmer belegt waren. Viele der Patientinnen und Patienten waren mit Medikamenten ruhig gestellt, doch gab es auch einige, die unruhig und nur notdürftig bekleidet zwischen Bett und Toilette hin und her irrten, orientierungs- und hoffnungslos.
Wer auf dem Raucherbalkon eine mehr oder weniger zusammenhängende Unterhaltung führen konnte, war aus dem Gröbsten raus. Das hieß nicht, dass es sich bei diesen Gesprächen um Gehaltvolles drehte. Möglicherweise sprach man darüber, dass der ganze Balkon voller Fäkalien sei, dass man bestohlen wurde, dass man versucht habe, seine Freundin umzubringen oder dass man Gott sei. Es gab viele Götter auf der Station. Auch historische Gestalten wie Napoleon, Hitler oder Putin waren vertreten.
Anton zum Beispiel war Druide, koptischer Priester und Papst. Da er einen großen Teil der geistlichen Welt abdecken musste, war er im Stress, vor allem jetzt, zur Weihnachtszeit. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Station von schlechten Energien zu reinigen. Dazu urinierte er auf das blaue Linoleum des Aufenthaltsraums. Paula, die Praktikantin, musste mit einem Eimer und einem Wischmopp kommen und putzen.
„Was machen Sie da?“, versuchte Anton, sie aufzuhalten.
„Ich wische Ihren Urin auf.“ Sie versuchte, möglichst ruhig zu antworten und tauchte dabei den Mopp in die Seifenlauge, drückte ihn aus und setzte ihn mit einem klatschenden Geräusch auf den Linoleumboden.
„Aber er muss noch einwirken!“ Antons Stimme klang panisch.
„Nein, Anton, das hat genug eingewirkt. Die schlechte Energie ist schon aus dem Raum verschwunden.“
„Aber ich muss noch sechs Zimmer reinigen!“
„Warum denn sechs?“ Paula wischte weiter.
„Weil es dann sieben Zimmer sind, und sieben ist eine heilige Zahl!“
„Nein, Anton, alle Zimmer sind gereinigt. Glaub mir, ich habe ein Gespür für so etwas“, log sie.
Dank einer großen Dosis Haldol im Blut gab sich Anton damit zufrieden und verschwand in seinem Zimmer.
Paula hatte sieben Fotos seiner beiden Kinder auf seinem wie ein Altar geschmückten Nachttisch gezählt. Als Babys, als Kleinkinder, bei der Einschulung. Mit ihm zusammen, mit ihrer Mutter. Paula vermutete, dass die Familie keinen Kontakt zu Anton wollte, weil er „verrückt geworden“ war. Niemand besuchte ihn.
Sie machte den Job jetzt seit vier Monaten und hatte sich an vieles gewöhnt, wie an das Aufwischen von diversen Flüssigkeiten oder Essensresten, Erbrochenem oder im Idealfall nur Wasser. Sie passte auch darauf auf, dass die Teeküche nicht im Chaos versank, oder ging manchmal mit einem Patienten die Gänge der Station auf und ab, um ihn zu beruhigen, wenn er einen Wutanfall hatte. Sie hatte sich nach dem Krebstod ihrer Mutter für das Praktikum entschieden. Plötzlich war sie allein. „Gott hat sie zu sich gerufen“, „Sie ist jetzt an einem besseren Ort“, „Ihre Zeit war gekommen“, „Jetzt ist sie glücklich“ – diese gut gemeinten Sätze verursachten bei ihr Brechreiz. Der Verlust ihrer Mutter war so allumfassend, so absurd, so furchtbar und endgültig, dass kein einziger Satz, kein Bibelvers (und sie kannte sehr viele Bibelverse) irgendetwas daran lindern konnte. Es gab keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Das wusste sie schon lange, aber erst jetzt wurde ihr klar, was das in seiner ganzen Vergeblichkeit und Grausamkeit bedeutete.
Als erstes ließ Paula sich ein Nasenpiercing stechen, um nicht verrückt zu werden. Der Schmerz half gegen die Trauer. Seitdem trug sie einen silbernen Ring im rechten Nasenflügel.
Sie verließ ihre Gemeinde, ihre Freunde und alles, was sie an früher erinnerte. Sie war wütend auf Gott, so wütend, dass sie nicht mehr mit ihm sprach. Auch das war neu. Paula hatte jeden Tag gebetet.
Sie gab ihr Studium auf, suchte sich den Praktikumsplatz in der psychiatrischen Klinik und fand ein Zimmer im Wohnheim. Ein Betonbau mit Linoleumboden und spartanischen Möbeln aus den siebziger Jahren war genau die richtige Umgebung. Nüchternheit, Gefühllosigkeit, Taubheit, Anonymität.
Der Job, in dem kein ihr bekanntes Paradigma griff, tat ihr gut. So eingesperrt die Patientinnen und Patienten auf der Akutstation waren, so frei konnten sie sich verhalten. Wer schreien wollte, schrie. Wer fluchen wollte, fluchte. Wer weinen wollte, weinte, schluchzte, jammerte. Das wunderte hier niemanden.
Es gab keine heile Weihnachtswelt. Hier durfte alles so sein, wie es war: elend.
Paula bewegte den Wischmopp in Wellen, Kreisen und Achten über den Boden. Als sie fertig war, kippte sie das Wasser in die Toilette und räumte Eimer und Mopp in den Putzraum.
Dann klingelte es an der Schleusentür und ein Neuzugang wurde von zwei Polizisten hereingeführt. Weiße Hosen, ein weißes, langes Hemd. Ein eigenartiges Strahlen ging von der Person aus. Paula blieb erstaunt stehen und beobachtete verwundert, wie plötzlich Anton auftauchte und vor ihr auf die Knie fiel, sein Gesicht in dem langen Hemd barg.
Dann kam der Stationsarzt, half Anton auf – „Ganz ruhig, Sie können später sprechen“ – und führte die Person in das Aufnahmezimmer.
Paula folgte ihnen und fragte: „Darf ich mit dabei sein?“
Der Arzt nickte kurz. „Wie heißen Sie?“, wandte er sich an den Patienten. Oder war es eine Frau?
„Gabriel.“ Die Stimme klang ruhig. Sie machte keinen verwirrten Eindruck.
„Und weiter?“
„Nichts weiter. Nur Gabriel.“
Sina, die Pflegerin, machte sich Notizen und sah dabei maximal gleichgültig aus. Paula wunderte sich. Wahrscheinlich kommt das mit der Routine, dachte sie. Man findet gar nichts mehr seltsam.
„Warum sind Sie hier, Gabriel?“ Der Arzt klang gekonnt freundlich.
Ein Strahlen breitete sich über das alterslose Gesicht. „Ich habe gute Neuigkeiten, die ich allen erzählen will. Wichtige Neuigkeiten.“
„Und die wären?“ Dr. Frank war leicht genervt. Er hatte sowieso schon schlechte Laune, weil er am Heiligabend Dienst schieben musste.
Gabriel lächelte weiter. Der Blick fiel auf Paula. „Gerade für dich habe ich gute Nachrichten, Paula.“
Paula wunderte sich nur ein bisschen, dass die Patientin ihren Namen kannte. Vorherrschend war der Duft nach Zimtsternen, der ihr plötzlich in die Nase stieg.
Gabriel ignorierte die Frage des Arztes und setzte nach: „Ich bin wegen dir und Anton hier. Ihr könnt gute Neuigkeiten dringend gebrauchen.“ Sie lächelte sanft und verständnisvoll. Paula wurde warm.
Sina sah abwechselnd zu Gabriel und dem Arzt und balancierte ihren Kugelschreiber zwischen Zeige- und Mittelfinger, schwenkte ihn hin und her.
Gabriel blickte weiter zu Paula. „Kannst du Anton holen?“
Dr. Frank erhob jetzt leicht seine Stimme. „Das geht nicht. Wir müssen jetzt das Aufnahmegespräch zu Ende führen. Setzen Sie uns doch bitte erstmal ins Bild.“
Paula lächelte Gabriel an und hob entschuldigend die Schultern. Sie wagte nicht, sich in das Gespräch einzuschalten.
„Gut.“ Das Strahlen wurde noch heller. „Heute ist Weihnachten.“
„Ja, heute ist Weihnachten.“ Dr. Frank nickte übertrieben geduldig. Und ich könnte jetzt bei meiner Familie sein und den üblichen Weihnachtsstreit aussitzen, anstatt mir das Gewäsch dieser armen Irren anzuhören, dachte er. Über die Jahre war er bitter geworden.
„Du bist hier schon richtig, Klaus.“ Gabriel sah Dr. Frank in die Augen. Bevor der seinem Erstaunen Luft machen konnte, stand sie auf und sprach mit lauter, klarer Stimme: „Friede auf Erden! Euch ist heute der Heiland geboren. Der Retter, der euch von diesem ganzen Wahnsinn erlöst.“
„In der Stadt Davids, die da heißt Betlehem …“ Paula sprach, ohne es zu merken. Sie konnte die ganze Weihnachtsgeschichte aus der Bibel auswendig aufsagen und hatte deshalb auch Gabriels etwas freie Interpretation des Originaltexts bemerkt.
„Nein, Paula, heute nicht in Bethlehem. Heute hier auf der Station Z2, hier in der Psychiatrie.“
Paula hörte ihr Herz in den Ohren schlagen. „Was?“ entfuhr es ihr. Sie hoffte inständig, dass es sich hier nicht um einen durchgeknallten Frömmler handelte. Bitte nicht. Nie mehr.
„Du weißt, was ich meine, Paula.“ Gabriel sprach ruhig und klar. „Deine gute Nachricht ist: Er sieht dich. Deine Mutter ist bei ihm.“
Paula spürte, wie sie rot wurde. Sie sah dem Erzengel in die Augen. Augen wie Sterne. Die Wärme eines Kaminofens. Geborgenheit. Das Weihnachten der Kindheit, das es nie mehr geben würde. Anders als sonst, wurde sie bei diesen Gedanken nicht traurig, sondern froh.
Dr. Frank blickte zu Sina. „5 Milligramm Haldol, 3 mal täglich, und heute Abend Zopiclon, 7 Milligramm zum Einschlafen.“ Eifrig schrieb die Pflegerin mit.
„So, Gabriel, Sina bringt Sie jetzt zu Ihrem Bett und dann bekommen Sie Ihre Medizin. Das wird schon wieder.“ Er war froh, diesen Möchtegern-Engel loszuhaben.
Sina nahm die Patientin sanft am Arm und führte sie zur Tür.
Dort wandte sich Gabriel noch einmal lächelnd zu Paula um.
„Geh zu Anton“, flüsterte sie. Der Engel nickte. Dann zwinkerte er ihr zu.
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