Kurzgeschichte von Marlies Birkle
Seinen Toilettenbeutel findet er auch nicht. Vielleicht hat er gar keinen mehr, vielleicht ist er mit den Jahren in den Untiefen seines Zimmers verschwunden oder hat sich entmaterialisiert, wer weiß das schon. Hauptsache, er besitzt noch Zahnbürste und Rasierzeug. Aber kein zweites Paar Socken. Dafür leere Bierflaschen im Überfluss, die er wegen T. unterm Bett versteckt hat. Davon abgesehen liegen fünf neue Dosen im Kühlschrank. Er versetzt seiner Reisetasche einen Stoß.
„Verpiss dich!“
Sie schliddert mit ihrem mageren Inhalt über den Boden: einem Pulli, einer Hose, einer Unterhose – in den Haufen leerer Pizzakartons, um ihn von dort wie ein gequälter Hund anzuglotzen.
Mit zittrigen Fingern dreht er sich eine. Seit wann hat er diese braunen Verfärbungen an den Kuppen? Und dazu die gelblichen Nägel, die sich demnächst in Krallen verwandeln, wenn er seine Nagelschere weiterhin nicht findet.
Sein Aschenbecher qualmt, er schiebt ihn, eine flockige Spur hinterlassend, mit dem Fuß durch die geöffnete Balkontür zu weiteren Pizzaschachteln, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung befinden. Erstaunt betrachtet er die matschigen Flocken, die drei Tage vor Heiligabend wie bestellt aus einem rattengrauen Himmel stürzen, aber nur, um beim Aufkommen sofort in einen wässrigen Zustand überzugehen.
Das an- und abschwellende Verkehrsrauschen der vierspurigen Ausfallstraße unter ihm ist noch lauter als sonst, die Reifen zischen auf der vor Nässe glänzenden Straße. Aber jetzt springen an der Kreuzung weiter unten die mittleren Ampeln auf Rot, die der Abbiegespuren auf Grün und für eine Sekunde, so scheint es ihm, für einen einzigen Augenblick kommt der ganze Weihnachtswahnsinn zum Stillstand.
Doch die Scheibenwischer der Kärren ticken weiter wie überdrehte Uhren und ihre Scheinwerfer glotzen in diesen Tag, an dem es überhaupt nicht richtig hell werden will.
Aber wenn T. glaubt, ihn durch die Pampa zu einer gottverlassenen Einrichtung karren zu können, wo sie ihn wie einen kaputten Kühlschrank zur Reparatur abgeben will, hat sie sich geschnitten.
Wie angestochen brausen die da unten wieder los. Aber wenn spät am Abend der gnadenlose Lärm abebben und am nächsten Morgen umso heftiger wieder einsetzen wird, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als möglichst schnell aus der Stadt heraus- oder in sie hineinzukommen, wird er immer noch hier sein. Er wird wieder auf dem Balkon stehen, wenn sie unablässig ihre SUVs hochdrehen, beladen mit Christbäumen und passendem Schmuck und mit Geschenken, die bei der nächstbesten Gelegenheit entsorgt werden. Überhaupt: Wieso kann jeder an den Festtagen fressen und saufen bis zum Erbrechen, während man ihm Vorschriften machen will?
Plötzlich duftet es nach frisch gebackener Pizza mit Knobi. Oh, wenn er doch gleich eine bekäme! Aber er muss warten, bis jemand vergisst, beim Pizzaservice im Erdgeschoss seine Margherita, Diavola, Napoletana oder sonst eine abzuholen. Wenn er sich dann über sie – mit Ausnahme der Meeresfrüchte – hermacht, ist sie längst kalt und ihr Duft hat sich auch verflüchtigt.
Noch einmal zieht er an seiner Selbstgedrehten, dann lässt er sie, bevor sie ihm die Finger ansengt, fallen und sieht sie als Lichtpünktchen auf dem Teer verglühen. Wenigstens ist das hier keine Gegend für Fußgänger, wenigstens kommt hier keiner auf die Idee, Sterne oder anderen Deko-Mist wie auf dem Weihnachtsmarkt aufzuhängen, wenigstens gibt es hier keine süßlichen Lieder und keine Frauen, die ihm Glühwein anbieten. Erst gestern ist er vor einer Madam davongerannt, die in ihrem Kellereingang unter einer blinkenden Kette neben dem weihnachtlich duftenden Gebräu hockte und ihn mit ihrer Schöpfkelle herwinkte. Er ist mit seinen Kilos, die er sich, seit er sesshaft geworden ist, über die Jahre zugelegt hat, schnell ins Schnaufen gekommen, obwohl es kaum bergauf ging. Erst in seiner Einzimmerwohnung fühlte er sich gerettet. Ihm war, als ob die Stadt ihn auf ihre Schattenseite ziehen wolle, wo all das Schmutzige, Chaotische und Unberechenbare nur darauf lauerte, seine versteckte Raserei aufzuwecken.
Er geht wieder hinein, lässt jedoch die klemmende Balkontür einen Spalt offen. Damit sie richtig schließt, muss er jedes Mal den Hebel mit Gewalt herunterdrücken. Was ein Geräusch erzeugt, als ob er sie misshandle. Auch seine Glotze gibt nur noch Weihnachtsscheiße von sich. Er dreht ihr den Saft ab.
Trotzdem: Es liegt was in der Luft. Etwas wie Wut. Wieder mal. Wie beim letzten Ausraster vor ein paar Monaten. Auch da hat er schon vorher dunkel gespürt, dass seine Wut wieder aufgewacht war. Woher immer sie kam. Warum er im Suff ausgerechnet vor der Polizeidienststelle wie ein Irrer randaliert hatte, weiß er bis heute nicht. Angeblich hat er Rosensträucher herausgerissen, ein Schild demoliert (wie, ist ihm immer noch schleierhaft), auf das Blumenbeet gepisst und mehrere Beamte beleidigt, als sie ihn niederrangen. Laut Anklage hat er sie bespuckt und gekratzt. Hätte T. keinen tüchtigen Anwalt für ihn gefunden, wäre diese unerfreuliche Geschichte richtig übel für ihn ausgegangen. So kam er mit einer Vorstrafe und der Auflage, einen Entzug zu machen, davon.
„Dann sind Sie wenigstens über Weihnachten aufgeräumt“, hatte T. halb im Scherz zu ihm gesagt, als sie den Gerichtssaal verließen. Und der Anwalt erklärte, wenn er nicht einrücke, stehe ihm ein harter Entzug im Knast bevor. Er war es auch, der vor Gericht auf einer günstigen Sozialprognose beharrte. Als seine Mutter noch lebte, so hatte er dem Anwalt erzählt, kochte sie jeden Tag für ihn und wartete jeden Abend auf ihn. Trotzdem hatte er früh mit Saufen angefangen und rastete im Rausch immer wieder aus. Auch im Beisein der Mutter. Als sie starb, warf ihn sein Bruder, ein Villeneigentümer, sofort aus dem mütterlichen Nest. Er stinke und verpeste das Haus, das er verkaufen wolle, hielt er ihm vor.
Im Männerwohnheim gefiel es ihm nicht. Als es auch in dem Provinzkaff, das er noch nie verlassen hatte, ständig Ärger mit der Polizei und unfreundlichen Behörden gab, zog er los. Er irrte durch Städte, deren Namen er nie zuvor gehört hatte und die er auch gleich wieder vergaß. Lag mit schmerzenden Knochen auf Parkbänken oder schlief in Eingängen, in denen er am anderen Morgen oft unsanft geweckt wurde. Warum er in dieser Stadt hier geblieben sei, fragte ihn der Anwalt. Sie sei ihm einen Tick unordentlicher vorgekommen, antwortete er. Es liefen hier noch mehr solche Leute wie er herum und außerdem gebe es hier T. T., die ihn damals, kaum dass sie bei der Kirche als Sozialarbeiterin angefangen hatte, vom Asphalt pflückte. Sie war es, die ihm dieses Zimmer, die nötigen Versicherungen, ein Konto und ein Handy, das er inzwischen verloren hatte, besorgte. Wann immer er in ihrer wöchentlichen Sprechstunde auftauchte, behandelte sie ihn anständig. Und er, er rastete bald nicht mehr aus. Abgesehen von dieser einen Geschichte, die ihm den Entzug bescherte.
Aber dort, wo T. ihn jetzt gleich hinbringen will, gibt es vielleicht nicht einmal eine Glotze auf dem Zimmer und das Rauchen ist auch untersagt. Dabei ist Rauchen das Letzte, was er sich verbieten lässt. Er ist ein freier Mensch, oder? Seine Freiheit bedeutet ihm alles. Druck mag er auch keinen, nicht einmal von T. Aber für die ist er auch nur ein Fall. Bis jetzt ein hoffnungsvoller. Aber eben ein Fall. Oder hat sie ihn auch nur ein Mal zu sich eingeladen? Und woher will sie denn wissen, dass es ihm nach dem Entzug wirklich besser geht und sich ihm neue Perspektiven eröffnen? Erst mal schicken sie einen in die Hölle. Und dahin will er auf keinen Fall. Wenn T. gleich dasteht, wird er ihr sagen, dass er nicht mitkommt.
„Sie haben es mir aber versprochen!“, wird sie antworten. Und er wird ihr – zack – die Tür vor der Nase zuschlagen. Andererseits: Wenn T. sich nicht dermaßen für ihn ins Zeug gelegt hätte, wäre er heute ganz woanders. Es klingelt. Soll sie warten, denkt er und stellt sich ihre kugelrunden Augen vor. Soll sie ruhig glauben, er sei abgehauen. Soll sie sich ein paar Sorgenfalten wegen ihm zulegen. Sonst kümmert sich ja keiner um ihn. Schließlich wird sie dafür bezahlt, da darf er es ihr auch ein bisschen schwermachen.
Es klingelt zwei Mal hintereinander. „Mal halblang, Mädchen“, murmelt er. „Wir kommen noch früh genug von hier weg.“
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