Selbst schuld? Nein, so läuft das nicht – Menschen entscheiden sich nicht dafür, suchtkrank zu sein. Als mehrfach abhängiger Betroffener, der die Reha hinter sich hat und jetzt ein ganzes Jahr und vier Monate abstinent ist, versuche ich hier, die Sucht aus meiner Perspektive zu erklären – nach zehn Jahren Konsum ab meinem dreizehnten Lebensjahr.
Von Agapezz
Meine Vergangenheit: Konsum ist wichtiger als Essen, ich brauche ihn zum Einschlafen und zum Aufwachen, zum Funktionieren. Damit ich nicht durchdrehe, halte ich mich am Rausch fest, auch wenn ich dabei jegliche Moral übergehe, an der ich eigentlich festhalten wollte. Konsum wiegt meine Traumata in den Schlaf und deckt sie gut zu, damit sie ja nicht aufwachen. Ich würde mich mit meinen negativen Erlebnissen gerne auseinandersetzen, doch dafür gibt es keinen sicheren Rahmen für mich. Und suchtkrank, ich? Nein, was ist denn Sucht überhaupt? Das definiert doch jeder für sich. Lass mich mit meinem Körper machen, was ICH will! Das ist die Sicht meines Suchtanteils.
Bis vor zwei Jahren war mir gar nicht klar, dass ich überhaupt suchtkrank bin, obwohl mir sehr schlimme Dinge passiert sind und der Konsum da auch nicht unschuldig war. Doch wenn man auf der Straße leben muss und die Menschen, mit denen du Platte machst, sich ebenfalls betäuben und das für niemanden ein Problem ist, wird der Konsum zum einzigen Bewältigungs-Mechanismus, den du gerade has(s)t – weil alle hier keinen anderen Weg lernen durften, um mit Emotionen umzugehen, der Konsum dadurch zur „Normalität“ wird und dir ohnehin niemand anderes helfen mag oder helfen kann. Wie sollte ich damals reflektieren, dass mein Überlebensmechanismus für Geist und Körper den Tod bedeutet? Meine Sucht sehe ich heute als eine Krankheit, für die ich nichts kann und von der ich damals keinen Ausweg hatte. Das können Menschen einem doch nicht übel nehmen?!
Was auf der Straße verletzt – und was hilft
Doch, Menschen nehmen dir die Sucht übel; sie werten dich ab und meiden dich, verdrängen dabei auch ihre eigenen Suchtmuster und überhaupt die Realität unserer komplexen Welt. Das beste Beispiel für ein häufig verdrängtes Suchtmuster der Mehrheitsgesellschaft: Kaufsucht! Wenn du Geld hast, kannst du dich „glücklich kaufen“ – doch nicht für lange. Denn wie bei jedem Rausch wirst du bald wieder etwas brauchen. Weil diese Art Konsum der Wirtschaft zugutekommt, wird da aber keiner so schnell ein Fass aufmachen. Apropos Fass – bekannterweise wird der alltägliche Alkoholismus viel großzügiger betrachtet als das Dasein der „Junkies“. Sucht zieht sich durch die ganze Gesellschafft, doch „die da unten“ trifft es häufig am heftigsten – was die Stoffe angeht und sowieso, was die Verurteilung anbelangt.
Damals beim Schnorren hörte ich von Passanten oft den Satz: „Hol Dir davon aber nichts zum Saufen, Kiffen oder was sonst noch so high macht!“ Diese Einstellung „Ich kaufe dem Menschen lieber was zu essen, damit er sich nichts zum Konsumieren holt“ konnte ich als Kind auch gut nachvollziehen – doch als ich dann selbst aus der Hand leben musste, empfand ich sie als übergriffig. Ich kann den Gedanken dahinter immer noch verstehen, aber wenn jemand selbst nie auf der Straße leben musste, soll er mich nicht entmündigen. Einem Leben voll Gewalt und Chaos ist durch einfache Ratschläge nicht geholfen. Was mir half, war endlich ein Zimmer, wo ich sicher sein konnte, regelmäßige Mahlzeiten und ein warmes Bett. Ein sozialer Kreis, der nicht dauerhaft konsumiert. Und das Schönste für mich von allen Dingen: eine warme Dusche.
Mit Glück nicht an der Sucht gestorben
Wenn die Hälfte der Bedürfnis-Pyramide gedeckt ist und du ein halbwegs festes Fundament hast, dann kannst du als suchtkranker Mensch versuchen, mit dir und deinem Wesen in einen Dialog zu treten. Im Idealfall natürlich mit einer kompetenten Fachkraft. Erst dann kannst du zur Einsicht finden und zu Kapazität für Veränderungen. Natürlich gibt es auch Menschen, die mit ihrem Konsum nicht aufhören möchten oder es nur halbherzig versuchen, weil sie ihr Problem zwar sehen, aber gerade noch so überleben – und sich ja nichts ändern muss. Aber auch da schreit doch das innere Kind, mit dem wir auf Pegel leider nicht gut reden können. Vielleicht wollen sie den „guten alten Freund“, die Substanz, auch doch noch nicht begraben? Man hat ja viel zusammen erlebt. Es ist schwierig, loszulassen von etwas, was man lange kennt. Auch wenn es einen selbst und alles um einen herum zerstört.
Macht der Gewohnheit? Nicht nur. Süchtig wird bekanntlich eher, wer in keinem sicheren sozialen Umfeld aufgewachsen ist, als Kind viel Mangel erfuhr und dem der Konsum schon vorgelebt wurde, auch in Form von Zigaretten, Glücksspiel, Sex. Wenn etwa das Generationstrauma – in meinem Fall ein Krieg – nicht aktiv verarbeitet werden kann, weil die Umstände das nicht hergeben … naja, dann mache ich es wie mein Vater, saufe Rotwein bis zur nächsten Schlägerei, um dann in der Ausnüchterungszelle aufzuwachen. Ich bin froh und dankbar, dass ich kein Drogentoter wurde.
Ich bin dankbar für meine jetzigen Privilegien und dass all meine Grundbedürfnisse gedeckt sind; alles durch einen schweren Unfall, der mein Ticket von der Straße war. Doch nicht jeder hat Glück im Unglück.
Auf andere achten und Leben retten
Als weiblich gelesenes Wesen auf der Straße habe ich wahrscheinlich die hässlichsten Seiten der Menschen gesehen und erlebt. Da hätte ich Zivilcourage verdammt gut gebrauchen können. „It looks like everybody‘s sleeping / But look close: they are dead indeed“ (Textzeile aus dem Lied „The Graveyard“ der Band The Devil Makes Three; zu Deutsch: „Es sieht aus, als wenn alle schlafen / Schau aber genauer hin: sie sind tatsächlich alle tot“). Letztens sah ich zwei Menschen auf dem Rücken liegen, inmitten der Stuttgarter Königstraße und in der prallen Sonne. Sie bewegten sich nicht und unter den vielen Vorbeilaufenden scherte sich keiner um die beiden. Ich war im Zwiespalt: Wenn ich jetzt den Krankenwagen rufe, dann kommt auch die Polizei als Begleitung mit. Und ich weiß nicht, ob ich den beiden dann noch mehr Probleme bereite. Persönlich hingehen und versuchen, mit ihnen zu agieren, konnte ich nicht, da ich Angst hatte, dass es meinen Suchtdruck oder meine Traumata triggern würde. Nach gut 25 Minuten rief ich den Krankenwagen. Weiterhin liefen viele Menschen an den Liegenden vorbei, als ob nichts wäre, am helllichten Tag. Die beiden hätten da tot liegen können und keiner hätte es bemerkt; keinen hat es interessiert, wie es ihnen geht. Der Krankenwagen brauchte weitere 15 Minuten. Als er kam, blieben Leute stehen – zum Gaffen.
Ein Satz lag in der Luft: „Das ist doch nicht mein Problem, wenn die Penner mal wieder zu viel gesoffen haben!“ Dabei ist es unser Problem als Gemeinschaft. Wenn wir aber alle versuchen, besser aufeinander aufzupassen, dann wird nicht nur unser System fairer, sondern manches Leben kann dann gerettet werden.
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