In Stuttgart leben besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund, die Stadt ist ein Vorbild in Sachen Integration. Warum klappt hier, was anderswo schwerfällt?
Von Martin Theis
Das Welcome Center ist für Ausländer so etwas wie ein offenes Tor zur Stadt Stuttgart. An der Servicetheke steht gerade ein junges Paar aus Portugal und erkundigt sich, wie es an Jobs kommen kann. Sie bekommen gleich ein paar Adressen. „Wir geben eine erste Orientierung für Neubürger“, sagt die Leiterin Suzana Hofmann. Sie führt durch den hellen Raum im Erdgeschoss eines alten Waisenhauses am Charlottenplatz, welches auch das Weltcafé beheimatet. „Es gibt keine Frage, die hier nicht gestellt werden darf“, sagt Hofmann. „Nur eine Antwort haben wir uns selbst verboten. Und zwar: Wir sind nicht zuständig.“
Zurzeit leben in Stuttgart rund 610.000 Menschen, davon haben etwa 46 Prozent einen Migrationshintergrund. Unter Kindern und Jugendlichen sind es weit mehr als die Hälfte. Eine gigantische Herausforderung – doch kulturelle Vielfalt wird hier vor allem als eine Chance verstanden. Im Jahr 2001 erklärte der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster Integration deshalb zur Chefsache. Er schuf eine eigene Stabsstelle in der Stadtverwaltung mit großer Gestaltungsfreiheit und kurzen Dienstwegen. Diese Abteilung widmet sich in etlichen Projekten der Chancengleichheit, dem Abbau von Diskriminierung und dem friedlichen Zusammenleben. So wurde Stuttgart zum Vorbild für andere Städte.
Durch den Dschungel Bürokratie
„Wie wir die Leute bei ihrer Ankunft behandeln, bestimmt auch darüber, wie sie und ihre Kinder sich später in der Gesellschaft verhalten“, sagt Hofmann. Sie selbst stammt aus Mazedonien und ist ihrem deutschen Ehemann nach Stuttgart gefolgt. Die deutsche Bürokratie sei ein Dschungel, in den sich manche gar nicht erst hineinwagten. „Früher sind zu viele durchs Raster gefallen und bestenfalls Taxifahrer geworden“, sagt Hofmann. Gleichzeitig werde die Liste der Berufe mit freien Stellen immer länger. „Es liegt in unserem Interesse, dass noch viel mehr Leute zu uns nach Stuttgart kommen.“
Die Stadt vereint vieles, was als typisch deutsch gilt. Hier herrschen Wohlstand, Sauberkeit und Ordnung. Die Konzerne Daimler, Porsche und Bosch exportieren Autos und Maschinen „Made in Germany“. Schwäbische Vermieter legen größten Wert auf die Einhaltung der Kehrwoche – das sind eherne Regeln, wer wann was zu fegen und zu schrubben hat; klingt nicht gerade nach einer Umgebung, in die sich Menschen aus anderen Kulturen leicht einfügen – doch es scheint zu klappen.
„Die gute wirtschaftliche Situation in der Region erleichtert die Integration“, sagt Gari Pavkovic, seit über 20 Jahren Integrationsbeauftragter in Stuttgart. „Wir haben den Ruf einer sicheren und weltoffenen Stadt.“ Den überwiegenden Teil der Einwanderer treibe die Jobsuche her, etwa aus Ländern im Süden und Osten Europas, in denen auch unter Akademikern hohe Arbeitslosigkeit herrscht. In Stuttgart sind sie willkommen. „Wir haben Fachkräftemangel von der IT-Branche über die Naturwissenschaften bis in die Gastronomie“, sagt Pavkovic. Auch Geflüchtete, wie seit 2022 etwa 8.000 Menschen aus der Ukraine, ziehe es in die Großstädte und damit nach Stuttgart: „Hier haben sie viele Verwandte oder finden Anschluss an ihre Community.“
Hürden abbauen, kulturell und wirtschaftlich profitieren
Selbst von den Geflüchteten stehen 40 Prozent in Lohn und Brot. Den vielbeschworenen „Sozialtourismus“ aus ärmeren Ländern könne er nicht erkennen, sagt Pavkovic: „Wer herkommt, der will in aller Regel arbeiten.“ Hürden auf dem Weg zur Anstellung seien eher die Sprache, die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse und nachträglich zu erwerbende Qualifikationen. Die Stadt hat daher etwa einen Ausbildungscampus mit weiteren Dienststellen in der Jägerstraße ins Leben gerufen, mit einem umfassenden Beratungs- und Bildungsangebot von der Ausländerbehörde bis hin zur Nichtregierungsorganisation ArrivalAid, die neu angekommene Geflüchtete betreut. Der nächste große Wurf wäre ein geplantes „Haus der Kulturen“, das allen Bürgern offen stünde – und in dem Menschen von überall her ihre Freizeit miteinander verbringen könnten.
Die Erfolgsgeschichte des Stuttgarter Integrationsmodells begann schon mit dem Oberbürgermeister Manfred Rommel, der die Stadt von 1974 bis 1996 regierte. Der CDU-Mann konnte wunderbar stur sein, vor allem wenn es darum ging, die Kulturen zu vereinen. Als viele noch dachten, dass die Gastarbeiter bald wieder heimkehren würden, wurde im Stuttgarter Sozialamt eine Stelle für einen Ausländerbeauftragten geschaffen. 1983 wurde auf Initiative des Oberbürgermeisters ein Ausländerausschuss gewählt – bundesweit einer der ersten zur Beteiligung ausländischer Einwohner im Gemeinderat. „Wir sind alle Stuttgarter“, lautete Rommels Devise. Als in den 80er Jahren ein Afrikaner zwei Polizisten tötete, stellte er sich vor die wütenden Bürger und sagte: „Es hätte auch ein Schwabe sein können.“
Statt Ghettos sollte in Stuttgart ein Miteinander entstehen. Man achtete darauf, dass die Stadtteile ethnisch durchmischt waren. Wenn Vereine einer bestimmten Volksgruppe bei der Stadt um finanzielle Unterstützung baten, mussten sie ihre Veranstaltungen für alle Bürger öffnen. In den 90er Jahren setzte sich Rommel außerdem stark für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft ein – zum Ärger vieler CDU-Parteigenossen. Bis heute wurde die Integrationsarbeit stetig weiterentwickelt: Unter dem Dach des „Forums der Kulturen Stuttgart“ haben sich seit 1998 mehr als 100 Migrantenvereine zusammengefunden, die einmal im Jahr ein großes Sommerfestival ausrichten. Und dank des Programms „Deine Stadt – deine Zukunft“ haben mittlerweile über 40 Prozent der Auszubildenden bei der Stadt Stuttgart einen Migrationshintergrund. Weil Sprachkurse die Basis für ein Leben in der deutschen Gesellschaft bilden, kann in Stuttgart jeder Neuankömmling einen besuchen – selbst Asylsuchende, deren Anerkennung aussichtslos ist. Schließlich kann eine Ablehnung Jahre auf sich warten lassen.
„Die Frauen müssen sich selbst etwas wert sein“
Und im Projekt „Mama lernt Deutsch“ werden speziell Frauen ermutigt, sich am Schulleben ihrer Kinder zu beteiligen. Ein Kurs dauert 300 Stunden und niemand hat mehr dieser Kurse gegeben als Sevdije Demaj. Über 16 Jahre hinweg hat sie tausende Frauen beim Deutschlernen begleitet. Sie kennt die Situation der Ankommenden gut, weil sie einst selbst als Geflüchtete aus dem Kosovo kam und kein Wort Deutsch sprach. „Die Frauen müssen sich selbst etwas wert sein. Wenn sie selbstlos sind, nützen sie auch der Gesellschaft nichts“, sagt Demaj. Während die Frauen in Schulen und öffentlichen Einrichtungen Unterricht nehmen, werden ihre Kleinkinder in Nebenräumen betreut. Das erleichtert den Zugang. „Wenn die Frauen es erst einmal hierher geschafft haben, ziehen sie den Kurs auch durch“, sagt sie. „Es sei denn, sie finden in der Zwischenzeit einen Job. Und das ist dann auch ein Erfolg für uns.“
Natürlich ist auch in Stuttgart nicht alles perfekt. So warten Geflüchtete oft monatelang, um einen Termin bei der überlasteten Ausländerbehörde zu bekommen. Auch Wohnungen und Plätze in Sammelunterkünften sind chronisch knapp. Dafür ist der Rückhalt in der Bevölkerung groß: Die Abteilung für Integration koordiniert rund 3.000 ehrenamtliche Flüchtlingshelferinnen und -helfer. Rentnerinnen und Rentner helfen Hauptschülerinnen und -schülern beim Übergang in den Beruf, und bei „Agabey-Abla“ (türkisch „großer Bruder – große Schwester“) lernen türkischstämmige Gymnasiasten und Studentinnen und Studenten mit jüngeren türkischstämmigen Schülerinnen und Schülern.
Integration funktioniert in Stuttgart auch, weil in jedem Stadtteil Orte der Begegnung entstanden sind: Jugendzentren, Generationen- und Familienhäuser haben sich zu interkulturellen Treffpunkten entwickelt. Das Generationenhaus Heslach ist einer davon. In den oberen Stockwerken gibt es eine Kinderbetreuung sowie eine Pflegestation für junge Patienten mit Multipler Sklerose oder anderen schweren neurologischen Erkrankungen. Darunter treffen sich Kulturvereine der Albaner, der Ägypter oder der Bangladescher. Im Erdgeschoss steht das „Café Nachbarschafft“ allen offen. Ein paar Senioren sitzen dort neben einer jungen MS-Patientin mit Rollstuhl. Feixende Jugendliche mit schwarzen Haaren und Baseballjacken stürmen herein, während an der Theke eine Frau aushilft, die aus dem Iran geflüchtet ist. Kaffee und Tee gibt es gegen eine Spende. Jeden Mittwoch von 15.30 bis 18.30 Uhr findet hier das offene Lerncafé für Geflüchtete statt.
Stuttgart im regionalen Vergleich: Daumen hoch
An einem Tisch warten schon Mohammed und Rashid, zwei junge Männer aus Syrien, die Deutsch üben wollen. Die letzten Monate haben sie in Ostdeutschland verbracht. Mit weiten Augen zählt Mohammed all die Orte auf, an denen sie gelandet waren: „Prenzlau, Eisenhüttenstadt, Frankfurt (Oder) …“ Überall dort sei es unmöglich gewesen, Kontakt zu den Einheimischen aufzunehmen. „Die Menschen haben uns nicht mal angeschaut“, sagt er. Stuttgart sei für beide wie eine andere Welt. Rashid nickt lächelnd und streckt beide Daumen in die Luft. Dann setzt sich ein blonder Teenager zu ihnen an den Tisch und diktiert den beiden neuen Stuttgartern ein paar deutsche Sätze in ihre Notizblöcke.
Hinterlassen Sie einen Kommentar