Frau Dürig, der Paritätische Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg wird in diesem Jahr 75. Wir möchten uns zu dieser Gelegenheit ein bisschen über Sie, den Verband, über seine Vergangenheit und Zukunft unterhalten. Erklären Sie unseren Lesenden kurz, was der Paritätische für Aufgaben hat.
Der Paritätische ist einer der sechs Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg. Was uns auszeichnet ist, dass wir konfessionell, weltanschaulich und parteipolitisch unabhängig sind. Für uns ist wichtig die Prinzipien Offenheit, Vielfalt und Toleranz zu leben, und zwar komplett in allen Bereichen und Themen. Wir haben insgesamt heute über 900 Mitgliedsorganisationen mit insgesamt 2.000 sozialen Diensten und vertreten 130.000 Engagierte – 50.000 Ehrenamtliche und 80.000 hauptamtlich Beschäftigte – und die vielen Menschen, für die sie sich engagieren und die sie unterstützen. Wir sind einer der größten Arbeitgeber in Baden-Württemberg. Zur Frage der Aufgaben: Wir sind Interessenvertreter und zwar der Interessen der Menschen, die wir vertreten. Für die kämpfen wir, für die bringen wir die Themen auf die politische Bühne und wir entwickeln Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen.
Wir haben viele Mitglieder, die sich für andere Menschen einsetzen sowie gerne miteinander und voneinander lernen. Das heißt, wir bieten auch eine Plattform für die über 900 Mitglieder, damit sie sich miteinander vernetzen. Und wir sind Anwalt der Menschen und das ist noch einmal das Vordergründigste: Wir sind Anwalt von Menschen in Not oder in schwierigen Notlagen. Unser Ziel ist es, Menschen in die Gesellschaft hineinzubringen, und wir sagen deshalb auch im Jubiläumsjahr: „Wir sind der Paritätische für das Leben“. Und zwar: weil alle zählen. Wir möchten eine offene und vielfältige Gesellschaft, die auf einer friedlichen und demokratischen Grundordnung agiert und von Toleranz geprägt ist. Deshalb ist uns auch Chancengerechtigkeit und Akzeptanz wichtig. In einer vielfältiger werdenden Gesellschaft muss der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Dazu braucht es Begegnungen und das Wissen, dass in Vielfalt Mehrwert steckt.
Sie sind Vorständin für Sozialpolitik und seit 1. April im Amt. Was ist das Herausfordernde an Ihrer Position und was bedeuten für Sie die ersten Monate im Amt, was haben Sie in den ersten Monaten beim Paritätischen erlebt?
Das Herausfordernde ist für mich zur Zeit die schlichte Einarbeitung in die Themenbreite, da die Themenbreite des Paritätischen in Baden-Württemberg enorm ist. Wir vertreten Organisationen und Themen von der Familienplanung bis hin zur Trauerarbeit. Aber wir haben auch Organisationen an Bord wie beispielsweise die Björn Steiger Stiftung, die sich um Opferrettung, Sicherheit und Notrufsäulen kümmert. Es sind völlig unterschiedliche Mitgliedsorganisationen bei uns vertreten, die aber, dieselben Werte vertreten. Was uns verbindet, ist der Anspruch, eine offene Gesellschaft gestalten zu wollen. Wir sehen in Vielfalt eine enorm positive Kraft. Wir selbst schaffen aus unserer Vielfalt Mehrwert für die Menschen, die wir unterstützen und vertreten. Und deshalb fördern wir Toleranz und Diversitätskompetenz in allen unseren Themen und engagieren uns für andere.
Aber die Sozialwirtschaft in Gänze steht zur Zeit unter einem extremem Druck. Herausforderungen sind steigende Kosten wie Personal- und Energiekosten, aber auch Kosten für Material und auf der anderen Seite zu geringe Zuwendungen, die teils seit Jahrzehnten nicht angepasst worden sind. In der Suchtberatung und an anderer Stelle wurden diese seit 1999 nicht angepasst, so dass die Schere immer weiter aufgeht zwischen dem, was die Mitgliedsorganisationen für ihre Leistungen bekommen und dem, was sie eigentlich an Kosten haben. Das bringt diverse Organisationen extrem unter Druck. Gleichzeitig ist der Bedarf für Soziale Arbeit generell in unserer Gesellschaft gestiegen, aber die Angebote müssen reduziert werden, weil sie nicht ausreichend finanziert bzw. die Mehrkosten nicht finanziert werden. Das heißt, wir haben die gestiegenen Kosten, wir haben den Fachkräftemangel und wir haben auf der anderen Seite nicht genug Zuwendungen oder auch konzertierte Aktionen zum Thema Personalmangel in der Sozialwirtschaft. Aber das brauchen wir, wenn wir dem wachsenden Bedarf an Sozialer Arbeit begegnen wollen.
Wie ist denn dem entgegenzuwirken? Akut und dauerhaft?
Wir müssen noch stärker für die Bedeutung der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft sensibilisieren. Eine aktuelle Studie besagt, dass wenn man einen Euro für Soziale Arbeit einsetzt, 17 Euro Folgekosten spart, weil man vorher Menschen begleitet hat, sie zum Beispiel auch wieder in Arbeit bringt oder sie von Sucht befreit. Das ist der sogenannte Social Return on Investment (SRoI). Das heißt, das, was eingesetzt wird, hilft Folgekosten zu reduzieren. Also nochmal zusammengefasst: Wir brauchen Sensibilisierung, Lobbyarbeit, dafür, dass die Politik auch Haushaltsmittel zur Verfügung stellt, auf Bundes-, Landes- und Kommunenebene. Und wenn man Allianzen schmiedet mit Ländern, wie zum Beispiel eine Fachkräftegewinnungsallianz mit Indien, dann darf die Politik nicht nur an die Wirtschaft denken. Pflegerinnen und Pfleger müssen natürlich angelernt werden, die Sprache erlernen und sie müssen ihre Abschlüsse anerkannt bekommen. Aber wenn man einmal eine Allianz mit einem Land schmiedet, dann sollte diese gleich für den Sozialwirtschaftssektor auch gelten und genutzt werden.
Und was ich in den ersten Monaten außerdem getan habe: Ich habe sehr viel zugehört, ich habe viele Fragen gestellt, und ich habe unglaublich viele engagierte Menschen getroffen, die sich weit über das normale Maß pro Tag engagieren; die weit über ihre persönlichen Grenzen hinausgehen, in allen Bereichen, die wir vertreten. Das ist der Grund, warum wir jetzt einen Engagementpreis ausgelobt haben: #PariEngage: Der Paritätische Baden-Württemberg zeichnet innovatives Engagement aus, von Ehrenamtlichen wie Hauptamtlichen sowie Medien, die über Wohlfahrtspflege berichten. Es gibt derzeit drei Kategorien: Es werden junge Leute bis 20 angesprochen, die sich engagieren; Es gibt sehr viele Schülerinnen und Schüler, die sich aktiv zeigen, auch über längere Zeit. Die zweite Kategorie ist die Medienberichterstattung, also unser Medienpreis, und die dritte Kategorie ist der Innovationspreis. Da geht es darum: Wie kann man innovativ Menschen aktivieren und gesellschaftliche Herausforderungen meistern. Das sind die ersten drei Kategorien, die vierte Kategorie kommt im Oktober, zum Wintersemester. Mit dem „studentischen Forschungspreis“ sprechen wir demnächst Hochschulen und deren Studierende aus den Fakultäten Sozialwissenschaften, Gesundheitsmanagement, Softwareentwicklung, Pflegemanagement, Soziologie und BWL etc. an. Sie sind aufgerufen, neue Arbeitsweisen, Methoden und Ansätze zur weiteren innovativen Gestaltung der Sozialarbeit sowie der Verbesserung der Alltagspraxis in der Sozialen Arbeit auszuarbeiten. Denn: Man kann alles verbessern. Das hat nichts damit zu tun, dass etwas schlecht war. Meine Grundüberzeugung ist, dass es immer Gründe gibt, warum man gerade so aufgestellt ist, aber dass man sich grundsätzlich weiterentwickeln kann und sollte.
Nun feiert der Paritätische 75-jähriges Bestehen. Was hat sich im Lauf der 75 Jahre am stärksten verändert, was ist gleich geblieben? Wie nehmen Sie den Paritätischen 75 Jahre nach seiner Gründung wahr?
Gleich geblieben sind auf jeden Fall die Werte, die waren schon immer da, wir haben nur die Vielfalt der Angebote weiter ausgeprägt. Bei der Gründung 1948 waren Einrichtungen in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Wirtschaftsfürsorge wichtig, in den 60er Jahren kamen mehr Initiativen durch freiwilliges bürgerschaftliches Engagement dazu wie zum Beispiel Elternvereine der Lebenshilfe, Einrichtungen der Vorschulpädagogik, Eltern-Kind-Initiativen, Jugendfarmvereine, Initiativen der extramuralen psychiatrischen Nachsorge, Suchtkrankenhilfe; in den 70er Jahren auch immer mehr Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeinitiativen, Frauenhäuser, in den 80er Jahren verstärkt Frauen- und Mädchenprojekte, aber auch Arbeitslosenhilfen und Beschäftigungsinitiativen für langzeitarbeitslose Jugendliche und Erwachsene. In den 90er und 2000er Jahren haben diese sich auch immer weiter detailliert, es gab innovative Konzepte, die sich auf gesellschaftliche Veränderungen stützen und spezielle Problemlagen stärker adressieren.
Heute sind wir der drittgrößte Wohlfahrtsverband im Land Baden-Württemberg, innovativ und wirkungsvoll in einer flächendeckenden regionalen Struktur bei insgesamt sieben Fachbereichen: Wir sind strukturiert nach dem Aufbau des Sozialgesetzbuches (SGB) und bedienen somit Ältere Menschen und Pflege, Jugend und Bildung, Menschen mit Behinderung, Bürgerschaftliches Engagement; Selbsthilfe und Gesundheit, Familie, Kinder, Migration und Diversity, Arbeit und Qualifizierung, Krisenintervention und Existenzsicherung. In dem zuletzt genannten Bereich sind die Aspekte Schuldnerberatung, Straffälligenhilfe, Suchthilfe und Unterstützung für Frauen integriert. Wir arbeiten fachlich eng mit unseren Vertretungen in den Regionen zusammen wie Kreisverbänden und Regionalbüros. Diese transportieren die Interessen der Regionen an uns zurück und setzen sich für die Fachthemen vor Ort ein.
Wir haben darüber hinaus ganz neu ein sogenanntes Youth Sounding Board gegründet: Das ist im Grunde ein Jugendgremium aus Freiwilligen aus dem FSJ, das mich persönlich berät. Die jungen Leute aus diesem Gremium haben uns in 2023 zu den Themen Social Media und Jubiläumsplanung unterstützt. Sie bringen einen vollkommen anderen Blick mit. Auch daran sieht man: Wir sind eine absolute Beteiligungsorganisation und das leben wir in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Aber die Menschen in unserem Verband wollen sich auch beteiligen. Wenn jemand stark intrinsisch motiviert ist, dann will er seine Meinung zu Gehör bringen und auch gehört werden.
Dabei sind wir extrem schlank aufgestellt, bei den vielen Themen, die wir mit 85 Mitarbeitenden bedienen: Das sind ebenso motivierte Menschen, die einen beruflichen oder persönlichen Bezug zum Thema haben, die immer wieder neu denken und sich stark einsetzen.
Und unsere Mitgliedsorganisationen: Insbesondere wenn sie keine Regelfinanzierung erhalten, je mehr sie abhängig von Freiwilligenzuwendungen sind, desto mehr müssen sie sich immer wieder neu erfinden, aber dies gilt auch für alle anderen Mitglieder. Auch eine Konstante seit der Gründung: Immer wieder gab es schwierige Zeiten. Menschen in der Sozialen Arbeit müssen grundsätzlich innovativ sein und sind es auch. Deswegen haben wir auch den Engagement-Preis erstmals ausgelobt: um Menschen und ihre innovativen Ansätze sichtbar zu machen. Wir wollen das Engagement wertschätzen, aber auch die Innovationen der Sozialen Arbeit darstellen. Das ist uns wichtig.
Wohnraum für sozial benachteiligte und arme Mensch ist knapp. Eins der jüngsten „Kinder“ des Paritätischen ist das Wohnprojekt FAIRmieten. Welche Bilanz lässt sich hier nach drei Jahren ziehen?
Aktuell gibt es in Baden-Württemberg rund 54.000 Sozialwohnungen und bis 2025 brauchen wir 300.000! Unser Wohnprojekt FAIRmieten läuft hervorragend. Es ist ein attraktives Angebot für alle Seiten – sowohl für die Wohnungsbesitzer, als auch für die sozialen Organisationen, die dann weitervermieten. Es gibt Sicherheit und es ist erstaunlich, wie viele Wohnungen man tatsächlich findet. Wir haben ein weiteres neues Projekt im Paritätischen, das „WohnWerk“ in Reutlingen. Da ist die Stadt Reutlingen involviert. Das WohnWerk hat ein ähnliches Prinzip: Es werden Wohnungen angemietet und dann untervermietet, beispielsweise an Familien mit mehreren Kindern, Familien in Notlagen, Jugendliche, die sogenanntes „Couchsurfing“ betreiben, die also mal hier, mal da bei jemandem unterkommen. Die fallen vollkommen durchs Raster und kommen in keiner Statistik vor. Diese hohe Zahl der Sozialwohnungen, die fehlen, ist vermutlich nicht einmal die ganze Wahrheit. Da gibt es viel mehr Bedarf. Diese jungen Leute trauen sich nicht, sich obdachlos zu melden. Und die, die unter der Brücke schlafen, sind schlichtweg nicht sichtbar. Die sind mal da, mal dort, aber davon gibt es immer mehr. Um noch einmal auf das FAIRmieten zu kommen – da ist der selbstständige und unabhängige Immobilienmakler „Postbankimmobilien GmbH“ involviert, das heißt, das Ganze wird zuverlässig und professionell betrieben. Der Wohnungsbesitzer hat eine Sicherheit, aber auch die Menschen, die einziehen. Und das gibt Stabilität. Solche Projekte müssen wir skalieren, denn der Bedarf an bezahlbaren Wohnungen steigt.
Wo sehen Sie den Verband in der Zukunft? Wo könnte er stehen?
Wir werden immer Menschen in Notlagen vertreten, uns für sie einsetzen, nach besseren Lösungen suchen und Menschen vom Rande der Gesellschaft in die Mitte der Gesellschaft holen. Das wird sich nicht verändern. Womit wir uns zur Zeit beschäftigen, ist die Frage: „Wie können wir noch wirkungsvoller sein?“ Deshalb schauen wir uns aktuell Methoden aus anderen Sektoren an, wir sprechen mit anderen Verbänden, wir schauen auch ins Ausland, weil uns ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess wichtig ist. Das muss sein, wenn man nicht stehenbleiben will. Und ein Thema ist: „Wie können wir Partizipation noch einmal anders denken?“ Immer mit dem Ziel, alles, was wir weiterentwickeln, muss einen Mehrwert für unsere Mitgliedsorganisationen und für Menschen in Notsituationen haben. Deshalb streben wir nach sozialer Gerechtigkeit, bekämpfen Armut und arbeiten für eine konkrete Verbesserung der Lebenssituationen von jedem einzelnen Menschen. Aber: Die soziale Infrastruktur unserer Gesellschaft ist gefährdet, wenn der Staat nicht seiner Verantwortung gerecht wird und die vielen gemeinnützigen Sozialunternehmen finanziell unterstützt. Gleichzeitig wächst der Bedarf an Unterstützungsleistungen beispielsweise von Jugendlichen: Junge Menschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren weisen aktuell in stärkerem Maße psycho-emotionale Belastungen auf, fühlen sich immer öfter ängstlich und nervös. Ganz abgesehen von den vielen Menschen auch in Baden-Württemberg, die armutsgefährdet sind.
Dies alles zeigt: „Investitionen in Soziale Arbeit sind Investitionen in Zukunftsperspektiven!“ Der Staat darf und kann sich nicht aus seiner Verantwortung herausziehen. Das wäre eine Katastrophe für die vielen Menschen, die Unterstützung benötigen, und das würde auch unsere Gesellschaft verändern: zum Negativen mit Langzeitfolgen.
Hinterlassen Sie einen Kommentar